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polylog 16

Hans Schelkshorn: Editorial

2006

Gerechter Krieg?

Herausgeber des Thementeils: Hans Schelkshorn

Einleitung

THEMA

Michael Walzer

Die Debatte um humanitäre Interventionen

Michael Walzer, der im westlichen Diskurs wohl als der bekannteste Theoretiker in Sachen »gerechter Krieg« angesehen werden kann, plädiert in aller Entschiedenheit für eine Ethik der humanitären Intervention. Obwohl es ohne Zweifel besser ist, wenn ein tyrannisches Regime durch das eigene Volk vertrieben wird, so gibt es nach Walzer dennoch Fälle extremer Gewalt, wie z.B. die Killing Fields der Roten Khmer, die Anarchie in Sierra Leone oder die »ethnischen Säuberungen« im Kosovo, wo militärische Interventionen zur Rettung der Opfer auch ohne Beschluss des UN-Sicherheitsrates gerechtfertigt werden können. Zwar bestehe keine moralische Pflicht zur Intervention, dennoch zögert Walzer, humanitäre Interventionen bloß den »unvollkommenen Pflichten« (Kant) zuzuordnen. Nach Walzer sollte im Fall von massenhaften Tötungen jeder handeln, der dazu in der Lage ist, d. h. Staaten, nicht Einzelne. Dass Staaten immer auch Interessen verfolgen, ist nach Walzer kein zwingendes Argument gegen humanitäre Interventionen. Denn absolute Reinheit der moralischen Motive sei weder im privaten noch im politischen Handlungsfeld vollkommen verwirklichbar. Wichtige Klärungen sind allerdings in der Frage der Auswahl der Mittel vorzunehmen, in denen die Risken der intervenierenden Soldaten und der Zivilbevölkerung abzuwägen sind.

Abdullahi Ahmed An-Na’im

Internationale Gesetzlichkeit gegen islamischen und amerikanischen Jihad

An-na’im ist Rechtsphilosoph, stammt aus dem Sudan und lehrt derzeit in den USA. Im vorliegenden Beitrag beschäftigt sich An-na’im mit dem Afghanistankrieg, der von der US-Regierung als Verteidigungskrieg gegenüber den Bedrohungen durch die Attentäter von 11. September gerechtfertigt worden ist. An-na’im verharmlost keineswegs das Attentat auf das World-Trade-Center; auch dass es neben der Kritik an dem Attentat in der arabischen Öffentlichkeit auch religiöse Rechtfertigungen für Terroranschläge gibt, wird nicht verschwiegen. Weiters hält An-na’im das traditionelle Verständnis von jihad, das zwar ursprünglich »besondere Anstrengung« bedeutet, jedoch auch als Rechtfertigung der gewaltsamen Verbreitung des Islam diente, innerhalb der politischen Philosophie für »unhaltbar«. Als Grundprinzip für die Regelung internationaler Beziehungen kann nach An-na’im nicht die Scharia, sondern allein das allgemeine Prinzip »internationaler Gesetzlichkeit« dienen, womit die Ausschöpfung und Fortentwicklung der bereits bestehenden, rechtlich institutionalisierten Konfliktlösungsmechanismen umschrieben wird. Doch gerade die USA haben, wie An-na’im am Beispiel des Afghanistankrieges aufzeigt, die Option, die Beziehungen zwischen Staaten auf der Basis der Prinzipien der friedlichen Koexistenz und der Legalität zu gestalten, bewusst abgelehnt. Für An-na’im ist es unentschuldbar, die bestehenden Möglichkeiten einer rechtlich geordneten Reaktion gegen den Terrorismus nicht nur nicht auszuschöpfen, sondern durch einseitige militärische Aktionen, eine strikte Oppositionspolitik gegen eine internationale Gerichtsbarkeit, die Errichtung rechtsfreier Gefangenenlager usw. auf zahlreichen Ebenen zu schwächen. Mit einer solchen Politik nähert sich nach An-na’im die US-amerikanische Politik fataler Weise dem Prinzip des Terrorismus, nämlich der gesetzlosen Anwendung von Gewalt, an.

Christina Binder & Judith Putzer

Gerechter Krieg?

Eine völkerrechtliche Standortbestimmung

Christina Binder und Judith Putzer untersuchen die positiv-rechtliche Fortschreibung des Völkerrechts durch die Vereinten Nationen. Die zentrale Zielbestimmung des Völkerrechts besteht in der Sicherung des Weltfriedens, aus dem das Gewaltverbot abgeleitet wird, und das Prinzip der Achtung der Menschenrechte. Seit dem Beginn der 90er Jahre wurde nach Binder/Putzer das Gewaltverbot auf zwei Ebenen aufgeweicht. Erstens ist von der UNO etwa im Afghanistan- und im Libanon-Krieg das Selbstverteidigungsrecht von Staaten partiell ausgeweitet worden. Denn in beiden Fällen waren bestimmte Organisationen (Al-Kaida, Hisbollah), die weder zu den Organen des jeweiligen Staates zählen noch seiner effektiven Kontrolle unterstehen, das Ziel militärischer Operationen. Zweitens ist in der UN-Satzung eine deutliche Tendenz zu beobachten, schwere Menschenrechtsverletzungen, die ein Staat an seiner eigenen Bevölkerung begeht, nicht länger als interne Angelegenheit, sondern als eine Bedrohung des Weltfriedens zu qualifizieren. In diesem Sinne sind vom UN-Sicherheitsrat zur Beendigung der Menschenrechtsverletzungen im Nordirak (Kurden), im Jugoslawienkrieg, in Ruanda und im Sudan (Darfur) verschiedene Formen der Anwendung militärischer Gewalt gebilligt worden. Die gewaltsamen Interventionen wurden zunächst mit dem Argument der Eindämmung von Flüchtlingsströmen, die als Bedrohung für den regionalen Frieden qualifiziert worden ist, gerechtfertigt. Schließlich wurde die Überwindung der unerträglichen humanitären Situation selbst zum Rechtfertigungsgrund für militärische Interventionen. Damit weist die Fortschreibung des Völkerrechts von selbst auf die Problematik der humanitären Intervention. Obwohl humanitäre Interventionen völkerrechtlich als illegale Maßnahmen anzusehen sind, können sie, wie Binder/Putzer abschließend zu zeigen versuchen, durch einen strengen Kriterienkatalog an völkerrechtliche Prinzipien »angeschlossen« werden, so dass sie sich nicht in einem rechtlichen Vakuum bewegen.

Anand Amaladass

Gerechter Krieg? Indische Perspektiven

Anand Amaladass skizziert einige zentrale Reflexionen zum Thema »Krieg und Frieden« in den Philosophien Indiens. Weithin unbestritten ist im indischen Denken, dass der Einsatz von Gewalt nur als ultima ratio zu rechtfertigen ist. Zugleich finden sich jedoch, wie Amaladass an einzelnen Beispielen zeigt, in den Denktraditionen Indiens vielfältige Reflexionen über einen realistischen Umgang mit Gewalt und unterschiedliche Vorschläge zu ihrer Eindämmung. Nach der Mahārabhārata (12. Buch) können Kriege durch kluge und gerechte Könige vermieden werden; daher müssen Könige vor ihren Entscheidungen die Empfehlungen eines Kriegsrates einholen. Kautilya (3. Jh. v. Chr.) prüft hingegen im Arthaśāstra (10. Buch) die Möglichkeiten, wie Kriege durch diplomatische Maßnahmen vermieden werden können. Die Bhagavadgītā wiederum wird von Amaladass als ein Versuch verstanden, kriegerische Gewalt, die in der Rahmenerzählung dominiert, auf eine metaphysische Ebene zu transponieren und schließlich durch eine spirituelle Erneuerung zu überwinden. Nach einem kurzen Blick auf die buddhistische Ethik der Gewaltlosigkeit und ihrer Sicht der Pflichten des Königs wendet sich Amaladass einem großen Text der tamilischen Tradition zu, nämlich dem Tiṛukkuraḷ von Tiruvalluvar. Die politische Ethik des Tiṛukkuraḷ – die Datierungen der Entstehungszeit schwanken zwischen dem 3. Jh. v. Chr. und dem 5. Jh. n. Chr. – enthält nach Amaladass eine moralische Alternative zum »Machiavellismus« von Kautilya. Den Abschluss dieses Überblicks über indische Perspektiven zum gerechten Krieg bilden Überlegungen zu Gandhis Konzept des Satyagraha.

Erich Pilz

Das Imperium der Qing in der Welt der frühen Neuzeit

Zur Legitimation von Herrschaft durch die Mandschus

Erich Pilz setzt sich in seinem Artikel mit dem Großreich der Mandschus (1644–1911) auseinander. In der europäischen Philosophie sind bis zum Beginn der Neuzeit Fragen nach einem friedlichen Zusammenleben der Völker primär im Rahmen der Weltreichsidee verhandelt worden. Vor diesem Hintergrund sind Pilz’ Analysen über die Herrschaftslegitimationen der Mandschu für eine interkulturelle Auseinandersetzung mit dem Problem »Krieg und Frieden« von eminenter Bedeutung. Im Unterschied zum antiken chinesischen Reich, das eine Politik der Akkulturation, d. h. der Anpassung unterworfener Völker an die Han-chinesische Kultur, betrieb, entwickelten die Mandschu-Herrscher eine Reichsidee, die bewusst auf der Anerkennung und Förderung der kulturellen Unterschiede der einzelnen Völker aufbaute. Um die Gleichberechtigung der Mongolen, Tibeter, Uighuren u.a. zu unterstreichen und Loyalitäten zu stärken, wurden, wie Pilz im Detail beschreibt, die Symbole der chinesischen Weltordnung radikal erweitert. Darüber hinaus entwickelten die Mandschu-Herrscher unterschiedliche Verträge mit den Randvölkern und verstanden sich als global player im Konzert der Großmächte der frühen Neuzeit. Kurz: Die Mandschu-Herrscher brachen mit der Han-chinesischen Reichsidee, in der wie im Römischen Reich die eigene Zivilisation als alleiniges Zentrum der »Welt« verstanden wird, um die sich in konzentrischer Anordnung nur mehr verschiedene Sphären der Barbarei legen. Die Reichsidee der Mandschus kann daher als eine zeitgenössische Alternative zu den Völkerrechtsideen und imperialistischen Weltstaatstheorien im frühneuzeitlichen Europa angesehen werden.

FORUM

Franz Martin Wimmer

Gibt es Maßstäbe für kulturelle Entwicklung aus interkulturellen Begegnungen der Philosophie?

Bertold Bernreuter

Zehn Fallstricke in der Praxis interkultureller Philosophie

REZENSIONEN UND BUCHTIPPS

Fuss ...