Eine Anmerkung ist im Voraus notwendig, um keine falschen Erwartungen zu wecken: Der Themenschwerpunkt des vorliegenden Heftes meint nicht die Atmosphäre im naturwissenschaftlichen Sinne, wie sie in den Atmospheric Sciences untersucht wird, sondern gestimmte Räume. Die hier behandelte Atmosphäre bezieht sich nicht auf physikalische Parameter der die Erde umhüllenden Gasmischung, sondern auf spezifische Qualitäten erlebter Räume, die Dinge oder Menschen, Naturphänomene nicht weniger als gebaute Environments und intersubjektive Situationen gleichsam ausstrahlen.
Die philosophische Ausarbeitung dieses Verständnisses von Atmosphäre ist hauptsächlich auf die deutsche Phänomenologie zurückzuführen, aber der Begriff erfuhr darüber hinaus in den letzten Jahren eine starke internationale Rezeption. Dazu trugen englischsprachige Übersetzungen und neue Publikationen in der angloamerikanischen Welt, die Institutionalisierung des interdisziplinären Réseau international Ambiances (mit Sitz in Grenoble und insbesondere in der frankophonen Welt wirksam)[1], die Gründung der englischsprachigen Buchreihe »Atmospheric Spaces« im Mailänder Verlag Mimesis International[2] und nicht zuletzt ein reger, weltweit vernetzter wissenschaftlicher Austausch, insbesondere mit China und Japan, bei. Angesichts der griechischen Etymologie des Begriffs von Atmosphäre und der Entstehung der neuen Philosophie und Ästhetik der Atmosphäre im westlichen Kontext in expliziter Abgrenzung von den modernen Naturwissenschaften und mit dem Anspruch, eine (ebenso definitorisch westliche) dualistische Metaphysik zu überwinden, stellt sich von Beginn an die Frage nach begrifflichen Äquivalenten in anderen Sprachfamilien und nach ihrem hermeneutischen Potential in unterschiedlichen Denkkulturen und gesellschaftlichen Kontexten. Unter anderem lässt sich etwa fragen, ob der Begriff der Atmosphäre auch in anderen sprachlich-kulturellen Kontexten die angesprochene Ambivalenz – als objektiv messbarer Raum und als in einem Raum spürbare Stimmung – bewahrt und wenn ja, ob diese dann überhaupt noch als semantische Doppelgleisigkeit mit wenigen Schnittpunkten, wie in der westlichen Tradition, gelten darf.
Zunächst aber ist eine Begriffsklärung anhand ausgewählter historischer Wegmarken erforderlich. So hat Ludwig Binswanger 1955 den Ausdruck »gestimmter Raum« geprägt[3]. Otto Friedrich Bollnow hatte Das Wesen der Stimmungen (1941) untersucht[4], bevor er die Relevanz emotional erlebter Räume in Bildungskontexten betonte[5] und ausführliche Analysen dem »gestimmten Raum« in Mensch und Raum (1963) widmete[6]. Seine Herangehensweise war stark deskriptiv geprägt, indem er Räumen jeweils unterschiedliche »Charaktere« zuschrieb. Diese »sozusagen menschlichen Qualitäten« sind vom Zustand der Person abhängig und umgekehrt: die in einem Raum spürbare Stimmung wirkt sich auf die sich darin aufhaltenden Menschen aus. Bollnows Kontrastierung zwischen einem »beengenden« und einem »euphorischen« Raum diente zur Veranschaulichung dieser Thesen.
In einem weiteren Schritt machte Hubert Tellenbach auf die Bedeutung des Atmosphärischen für die Psychologie und Psychiatrie aufmerksam. In Geschmack und Atmosphäre (1968) stellte Tellenbach zunächst einen Zusammenhang zwischen dem physiologischen »Oralsinn« (worunter er die Einheit von Riechen, Schmecken und oralem Haut-Schleimhautgefühl verstand) und der Befindlichkeit her; er behauptete, dass im Riechen und Schmecken die emotionale Dimension (das Sich-affiziert-Fühlen des Subjekts) stärker als bei anderen Sinnesmodi ins Gewicht falle, vor allem beim sogenannten rezeptiv-empfindenden Oralsinn (im Gegensatz zum prüfend-bestimmenden Riechen).[7] Erfahrungsmerkmale des Oralsinns werden von ihm dann durch die Einführung des Begriffs vom Atmosphärischen verallgemeinert. Die Subjekt-Objekt-Beziehung verwandelt sich so bei Tellenbach zum dynamischen Binom Strahlung–Spüren. Auf der Seite des »Objekts« strahlen Individuen ebenso wie Gruppen, ganze Kulturen wie nicht weniger Landschaften, nicht zuletzt auch spezifische Situationen eigene Atmosphären aus, die sich nicht restlos begrifflich artikulieren lassen. Auf der Seite des Subjekts lösen diese Atmosphären laut Tellenbach augenblicklich eine (affektive) Einstimmung aus. Dass sich diese intersubjektiv nachvollziehen lässt, deutet wiederum darauf hin, dass die Atmosphären keine individuellen, geschweige denn beliebigen subjektiven Projektionen sind, sondern eine objektive Grundlage in Eigenschaften des »Gegenstandes« haben dürften. Tellenbach war sich dessen bewusst, dass er damit theoretisches Neuland betrat, als er die Atmosphäre als eine »Einheit von Präsenz und Sinn einer gelebten Wirklichkeit, die noch nicht unter die Bestimmung eines Themas getreten ist«[8], definierte. Zudem wies er als einer der ersten auf die methodologischen Herausforderungen dieses neuen Themenfelds hin: Die Atmosphäre sei eine Integraleinheit, die sich analytischen wissenschaftlichen Zugangsweisen entziehe. Die Tragweite dieser allgemeinen Ausführungen wurde dann klar in der Auslegung seiner literarischen Beispiele, in denen atmosphärische Wandlungen seelische Krisen ankündigen, sowie auch in den klinischen Fallstudien psychotisch veränderter Atmosphären.
Vor allem aber ist der Neuen Phänomenologie von Hermann Schmitz eine systematische (wenn auch zugleich begrifflich einigermaßen sperrige) Untersuchung der Atmosphäre als »Gefühlsraum«[9] zu verdanken. Die aus den 1960er-Jahren stammende Definition der Atmosphäre wurde später mit leichten Variationen wiederaufgenommen, etwa in der Formulierung: »Eine Atmosphäre ist eine ausgedehnte (nicht immer totale) Besetzung eines flächenlosen Raumes im Bereich erlebter Anwesenheit, d. h. dessen, was als anwesend erlebt wird.«[10] Eine besondere Relevanz für die vorliegenden Lektüren der Atmosphäre in globaler Perspektive hat vor allem Schmitz’ historische Kontextualisierung: Ursprünglich seien die Stimmungen in der griechischen Antike als unpersönliche Kräfte empfunden worden, die sich – gleichsam von außen kommend – einer Person bemächtigen können, wenn etwas Achilles in der Ilias in unkontrollierbare Wut gerät. Erst die klassischen griechischen Philosophen hätten die Subjekt-Objekt-Spaltung eingeführt und die Affekte dem Bereich des Subjektiven zugeschrieben – eine Vorstellung, die daraufhin durch die westliche Metaphysik verfestigt worden sei.
Schmitz selbst kehrte in späteren Jahrzehnten immer wieder zur Problematik der Atmosphären zurück und wendete den Begriff auf Landschaften, auf die Musik und auf den urbanen Raum an, allerdings ausschließlich anhand europäischer Beispiele. Bislang wurden nur zwei Bände von Schmitz ins Englische übersetzt, das erste Mal erst 2019[11], nachdem die Atmospheric Studies (nicht zu verwechseln mit den Atmospheric Sciences) eine größere Aufmerksamkeit entwickelt hatten, wenn auch inzwischen international bekannte Theoretiker*innen der Atmosphären, wie etwa Tonino Griffero, häufig Bezug auf Schmitz nehmen. (Ein Buch seines japanischen Übersetzers Tadashi Ogawa wird im Übrigen ebenfalls in dieser Nummer rezensiert.[12]) Was den deutschsprachigen Raum betrifft, so wäre die rasante Entwicklung der Theorie der Atmosphären in den letzten zwanzig Jahren in verschiedenen Bereichen undenkbar ohne die Rezeption von Hermann Schmitz, wie unter anderem die produktive Umschreibung und Erweiterung seines Denkens durch Jürgen Hasse (ebenso präsent in dieser Nummer) beweist.
Vorher aber wurde Schmitz’ Theorie der Atmosphären von Gernot Böhme rezipiert und seit den 1990-Jahren zu einer Ästhetik der Atmosphäre kreativ weiterentwickelt. Wie für Schmitz bildete auch für Böhme ein europäisches kulturhistorisches Phänomen den Ausgangspunkt: Auf der Suche nach der Grundlegung einer – wie er sie damals noch nannte – »ökologischen Naturästhetik«[13] untersuchte Böhme das Konzept englischer Gärten anhand der Stimmungen, die ihre verschiedenen »Szenen« evozieren. Daraufhin stellte Böhme den Begriff der Atmosphäre in den Mittelpunkt seiner »neuen Ästhetik«[14], wie seine Vorlesungen zur »Aisthetik« als Sinneslehre[15] am besten beweisen. Diese werden durch eine Erläuterung der Atmosphäre eröffnet, in deren Erfahrung Wahrnehmung und Affektivität zusammenfallen (siehe die Ambivalenz des »Spürens« auf Deutsch), ebenso wie das Subjekt und das Objekt (»es ist kalt« weist zwar auf ein bestehendes Phänomen hin, aber ist untrennbar mit der Anwesenheit eines leiblichen, affizierbaren Subjekts in situ verbunden). In einem zweiten Schritt entsteht das Atmosphärische; dieses wird im Anschluss an Schmitz als »Halbding« bezeichnet und beginnt, Eigenschaften eines äußeren Phänomens aufzuweisen.[16] In weiterer Folge lösen sich allmählich die Pole des Ichs und des Dings von der Erfahrung der Atmosphäre ab und verselbstständigen sich. Diese Perspektive bestätigt das phänomenologische Primat der erlebten Erfahrung und löst programmatisch die geläufige Vorstellung vom primären Charakter der Subjekt-Objekt-Dualität auf. Auch hierzu ist jedenfalls anzumerken, dass die von Böhme genannten Vorläufer dieses Perspektivenwechsels ausschließlich aus der deutschen Kulturgeschichte stammen.[17]
Böhme verstand seine Theorie der Atmosphären explizit als Befreiung der ästhetischen Theorie von der Hegemonie der »Urteilskraft«, des Logozentrismus (bzw. der Hermeneutik) und der Kunsttheorie. Darüber hinaus aber entsprach seine Ästhetik dem allgemeineren emotional turn, wie er in den darauffolgenden Jahren in mehreren Disziplinen aufgriffen wurde. Außerdem wandte sich später Böhme selbst von seinem ursprünglichen Interesse an der Naturästhetik ab und rückte die Inszenierung von Atmosphären in den Mittelpunkt. Anders gesagt, muss zwischen der Theorie und der Praxis der Gestaltung von Atmosphären unterschieden werden: Zwar bildet die Ästhetik der Atmosphäre eine neue theoretische Disziplin, kann (und muss) aber auf eine tausendjährige Erfahrung »ästhetischer Arbeit« zurückblicken, in der Atmosphären geschaffen wurden. Architekt:innen und Innendesigner:innen, vor allem aber Theatermacher:innen haben immer gewusst, wie sich spezifische Stimmungen vermittels symbolischer Gegenstände, durch Lichtverhältnisse und Chromatik, durch Musik und Duft, ebenso wie durch die Stimmqualität und Gangart darstellender Künstler:innen kreieren lassen. Die Philosophie der Atmosphäre kann nicht nur auf diesen reichen Erfahrungsfundus zurückgreifen, sondern muss sich auch mit der Spektakularisierung von Atmosphären in den verschiedensten Alltagbereichen in der Gegenwart auseinandersetzen, denn der »ästhetische Kapitalismus« (mit einem Ausdruck Böhmes) habe dem Gebrauchs- und dem Tauschwert auch einen »szenischen Wert« hinzugefügt. Somit ist die Frage nach den Atmosphären nicht nur von theoretischem Belang (womit die phänomenologische Schwerpunktlegung auf die Erfahrung fortgesetzt wird), sondern erhält auch einen gesellschaftskritischen Auftrag (was eher in der Tradition der Kritischen Theorie steht und mehr gelegentlich als systematisch thematisiert wird, etwa in Bezug auf medial-politisch inszenierte Atmosphären).
Im Kontext einer starken Erweiterung atmosphärischer Studien sorgte Christiane Heibachs dreigliedrige Taxonomie der Atmosphäre als primär, sekundär und tertiär für Klarheit[18]. Die Atmosphären erster Ordnung sind nicht konstruiert und werden in der Natur angetroffen, denken wir an den »Charakter« einer Landschaft oder an wetter- und witterungsbedingte spürbare Stimmungen[19]. Die Atmosphären zweiter Ordnung haben die Gesellschaft als Spielfeld und können positiv oder negativ, solidarisch oder antagonistisch sein, etwa eine kollektive Euphorie ausdrücken oder vielmehr hasserfüllt sein. Auch wenn sie sich nicht gezielt herausbilden und sich diffus verbreiten, darf ihre Wirksamkeit nicht unterschätzt werden, denken wir an die »sensiblen« Reaktionen der Aktienkurse auf gesellschaftliche Ereignisse oder an die kollektive Verunsicherung während der Covid 19-Pandemie, als das Unheimliche nicht mehr auf den Ausdruck eines innerpsychischen Konflikts zurückgeführt werden konnte, wie in Freuds Lektüre, sondern intersubjektiv nachvollziehbar wurde und ein globales Ausmaß erreichte.[20] Ob es sich um wirtschaftspsychologische, historische oder einfach um Alltagsphänomene handelt, jedenfalls widerspricht der umfassende Bereich gesellschaftlicher Atmosphären der Fokussierung sozialwissenschaftlicher Theorien und Methoden auf die Rationalität handelnder Akteure; in dieser Hinsicht weist Jürgen Hasse mit Recht daraufhin, dass Menschen ebenso emotional affizierte »Patheure« sind[21]. Dies zu verkennen, würde in Zeiten der Manipulierung von Konsument:innen über Stimmungen einen Fehler und im Kontext einer zunehmenden emotionalisierten Medienpolitik eine Gefahr bedeuten. Während sich die Unterscheidung zwischen gezielt konstruierten und ungeplant (etwa durch unkoordinierte Verdichtung von Praktiken, insbesondere in urbanen Ballungsräumen) entstandenen gesellschaftlichen Atmosphären manchmal als schwierig erweist[22], sind die Atmosphären dritter Ordnung eindeutig medial konstruiert. Wie bereits angeführt, ist die Praxis der Inszenierung von Atmosphären in Architektur, Theater, Film, Literatur, Musik und Design (vom Innen- bis zum Event-Design) seit langem bekannt, jedoch ist dieses Thema angesichts der seit der Postmoderne diagnostizierten allgemeinen Ästhetisierung brisanter geworden.
Daraus ergibt sich eine Reihe von Fragestellungen für die Theorie der Atmosphären, die inzwischen auch interdisziplinär besprochen werden, mit einem bedeutenden Anteil gerade der Gestalter:innen von Atmosphären selbst.[23] Zu diesen Fragen zählen die folgenden: Welche Mittel stehen verschiedenen Medien zur Verfügung, um bestimmte Atmosphären zu schaffen? Welche Verantwortung tragen die Gestalter:innen für die von ihnen erzeugten Stimmungen? Sind alle bei den Rezipient:innen ausgelösten Stimmungen wirklich intendiert? Wie lässt sich die gefühlte Unterscheidung zwischen echten und unechten Atmosphären erklären? Wie können politische Akteure sich gesellschaftlich verbreitenden Stimmungen – etwa Millenarismus oder Fremdenhass – begegnen, diese kontrastieren oder auch verstärken?
Diese doppelte Entwicklung der Atmospheric Studies, dank der Erweiterung und Konkretisierung von Atmosphären durch kulturwissenschaftliche Studien, machte auch die Relativierung früherer undifferenzierter philosophischer Grundaussagen zu diesem Thema erforderlich. Zwei Beispiele: Während Böhme ursprünglich behauptete, dass Atmosphären allein vor Ort und unmittelbar spürbar werden, zeigen einzelne Studien, wie beim atmosphärischen Erleben eines faschistischen Propagandafilms etwa auch der gesellschaftliche Kontext und der zeitliche Abstand mitwirken.[24] Auch die bei Böhme sich scharf profilierende Gegenüberstellung von Sinnhaftigkeit und Emotionalität, wobei die Atmosphären den Affekten zugeschlagen werden, bedarf bei näherer Betrachtung einer Abschwächung: Zwar lässt sich eine Atmosphäre nie bloß kognitiv erfahren, sondern ist auf die Kultivierung der Sensibilität angewiesen, jedoch können Informationen (etwa in Bezug auf Echtheit oder Umweltverträglichkeit des Erlebten) diese Erfahrung, einschließlich ihrer Bewertung, einigermaßen färben.
Darüber hinaus stellte sich der Begriff der Atmosphäre nicht nur in semantischer Hinsicht als ambivalent heraus. Eine Zeit lang konzentrierten sich die philosophischen Diskussionen auf die Frage nach der Objektivität oder Subjektivität von Atmosphären. Die intersubjektiv nachvollziehbare Erfahrung von Stimmungen, die von Dingen, Situationen, Räumen und Personen ausgehen[25], und ihre unbestrittene Wirkung auf Menschen (bzw. auch auf manche nicht-menschliche Tiere) zeigen ihre Wirklichkeit, auch wenn sie zumeist nicht präzise auf bestimmte dingliche Erzeuger zurückgeführt werden können und ihre Beschreibungen häufig vage bleiben. Sind sie aber Gefühle, die wir »besitzen« – und wenn ja, wieso lassen sich andere von ihnen »anstecken« – oder etwas, das Individuen gleichsam von außen ergreift? Schmitz tendiert dazu, das Fühlen als affektives Betroffensein von Gefühlen und die »Gefühlsräume« als objektiv aufzufassen. In seiner historischen Rekonstruktion der Weltspaltung zwischen Objektivem und Subjektivem bemerkte er, dass bei Homer, Empedokles (der Liebe und Hass als zwei kosmische Kräfte auslegte), in der Beschreibung der Wirkmächtigkeit der Liebe im Ersten Johannesbrief, später bei Goethe und allgemein in der Mythologie die Atmosphären als Gefühlsmächte dargestellt werden, sodass »die Besessenheit von ihnen […] zugleich die Ergriffenheit von der Macht eines atmosphärischen Gefühls« sei[26]. Erst durch Platon, Aristoteles und Demokrit wurden durch »Introjektion« die Gefühle ausschließlich dem Reich des Subjektiven zugeschlagen. Die geläufige Erfahrung von Atmosphären beweise aber unmissverständlich, dass Gefühle unkontrollierbare, ergreifende Mächte seien, und zwinge uns dazu, vielleicht unwillentlich zu einem archaischen Weltverständnis zurückzukehren.
Auch andere Theoretiker:innen, wie etwa Bollnow, betrachten die Stimmungen als etwas, das der Subjekt-Objekt-Spaltung vorausgeht. Böhmes relationale Ästhetik verortet die Atmosphären – als spürbare Qualitäten von Dingen cum fundamento in re – zwischen dem Subjekt und dem Objekt. Hasse differenziert zwischen Atmosphären und Stimmungen: Die Atmosphären sind objektiv, unpersönlich und gerichtet, während die (subjektiven, nicht gerichteten) Stimmungen die Grundlage für Gefühle bilden. Schließlich ist Griffero der Ansicht, dass sich die Atmosphären der Unterscheidung zwischen subjektiv-objektiv, drinnen-draußen entziehen und der Rationalität überhaupt widerstehen.
Weitere Fragestellungen der Ontologie der Atmosphäre zeigen die Grenzen der Dingontologie auf. Sind die Atmosphären Erlebnisqualitäten, die sich gleichsam in einen Raum ergießen und in diesen hineinstrahlen, dann unterscheiden sie sich von Ding-Eigenschaften im Sinne von Bestimmungen, welche Dinge haben und diese von anderen Dingen abgrenzen. Ob es sich um Gerüche, Farben und Töne handelt, die von Dingen ausgehen, oder um früher als Primärqualitäten bezeichnete Eigenschaften wie Ausdehnung/Größe (in heutigen Begriffen Skala) und Form, aus der Perspektive einer Theorie der Atmosphäre sind alle diese Qualitäten aktiv in dem Sinne, dass sie durch Ausstrahlung nach außen wirken. (Ein Wolkenkratzer etwa lässt benachbarte Bäume als winzig erscheinen, ein wellenförmiges Gebäude an einer Küste wird durch die Wasserfläche »verlängert« usw.) Eigenschaften werden somit bei Böhme zu Ekstasen im etymologischen Sinne eines Aus-sich-Heraus-Treten eines Dings bzw. zu Weisen, wie sich ein Ding uns in seinem Hier- und Jetztsein gibt. Wurden die Eigenschaften der Realität zugeschrieben, artikulieren »Ekstasen« die Anwesenheit eines Dings für ein leibliches Subjekt und gehören damit – wieder in Böhmes Formulierung – zur Wirklichkeit als phänomenal erlebter Realität. Was die Halbdinge betrifft, so vermitteln diese in ontologischer Hinsicht zwischen Dingen und Eigenschaften.
Auch in anderen Hinsichten fordern die Atmosphären die Ontologie der Dinge heraus. So haben sie keine Seiten (mit Husserl: perspektivische Abschattungen) und auch keine solide Konsistenz, obwohl sie sich wohl verdichten können (denken wir etwa an die emotionale Erfahrung einer »dicken Luft«). Sie haben keine Geschichte und weisen keine regelmäßigen Tendenzen auf, sondern sind gleichsam absolute Gegenwärtigkeit und existieren als reiner Akt. Atmosphären erscheinen partiell, jedoch keineswegs fragmentarisch; sie können spontan entstehen und verschwinden – womit man ihnen eine intermittente Existenz zuschreiben kann, wie das Phänomen Wind deutlich zeigt –, und sie sind vergänglich. Weitere Merkmale von Atmosphären sind ihre Charaktere, Intensität und Ausdehnung, deren Dimensionalität sich allerdings nicht geometrisch bestimmen lässt. Raumzeitlich betrachtet haben Atmosphären einen Ort (besser gesagt: sie sind der Ort, das Hier des erlebten Raums) und eine Zeit (sie ereignen sich jetzt und färben die Gegenwart emotional).[27]
Im Unterschied zu dingbezogenen Prozessen entziehen sich atmosphärische Veränderungen bzw. die Entstehung, Verbreitung und sich Auflösung von Atmosphären der Kausalität: In der sogenannten Ingressionserfahrung geraten Menschen in eine Atmosphäre; anders gesagt, sie betreten einen Raum, in dem sie die quasi-objektive Präsenz einer Atmosphäre spüren, bevor sie augenblicklich oder allmählich von dieser angesteckt werden. Der Begriff der Übertragung scheint geeigneter zu sein als jener der Kausalität, um über eine solche Einstimmung Rechenschaft zu geben, jedoch bleibt seine Theorie bis auf Weiteres unterbestimmt. Vor allem bestätigen diese Situationen, dass Atmosphären nie »leblos« oder rein passiv vorhanden sind, sondern sich durch eine spezifische Expressivität auszeichnen.
Auch in subjekttheoretischer Hinsicht bleibt die Theorie der Atmosphären nicht ohne Konsequenzen. So fordern zunächst die Atmosphären als Integraleinheiten die deskriptive Kompetenz der sie Erlebenden, wenn nicht überhaupt der Sprache, heraus. Ebenso erschließen sie sich erst einem sensiblen (und damit ipso facto leiblichen) Subjekt, dessen Affizierbarkeit in den Vordergrund rückt. Während die Geschichte der Phänomenologie mit einem tätigen Ego begann, das Husserl primär mit Intentionalität ausstattete und dem er das Prinzip »Ich kann« des fungierenden Subjekts zuschrieb, wandten sich in den letzten Jahrzehnten Phänomenolog:innen häufig von der Tätigkeit des Subjekts ab und »deklinierten« das Ego als mediales oder passives Mich und Mir, das auf etwas antwortet und dem etwas widerfährt.[28] Diese grammatikalische »Beugung« des agierenden Subjekts, das sich in erster Linie als reagierend und responsiv zeigt, bedeutete implizit seine Schwächung durch die Hervorhebung seiner Verletzlichkeit – ein Merkmal, das wohl auch für das Subjekt atmosphärischer Erfahrungen gilt. Die Phänomenologie der Atmosphären setzt diese Akzentverschiebung der Subjekttheorie fort. Während in Bereichen wie etwa der Kunst die Affizierbarkeit und die Sensibilität des Subjekts traditionell (an)erkannt wurden, betritt die Theorie der Atmosphären in anderen Feldern Neuland oder kontert einem vorherrschenden Paradigma, das als reduktionistisch angesehen wird. So gewinnt laut Jürgen Hasse die Theorie der Atmosphären, die er in zahlreichen Publikationen auf verschiedene Kategorien von Räumen anwendet, die emotionale Dimension der handelnden Sozialakteure zurück und korrigiert die Hegemonie des Konstruktivismus und Rationalismus in den Sozial- und Kulturwissenschaften mit ihrer Tabuisierung der Artikulation von Gefühlen. Das Subjekt ist aber situationsbedingt wechselwirkend Akteur und »Patheur«, so Hasse.
Eine weitere Eingrenzung der Rationalität und Diskursivität[29] betrifft die Bedeutung der leiblichen Kommunikation, die sich unmittelbar erschließt und aus phänomenologischer Perspektive eine spezifische Erkenntnisform darstellt, für das Erleben von Atmosphären. Atmosphärische Räume fordern vielfach gängige epistemische Vorstellungen heraus: Das Alltagssubjekt weiß nicht, was Atmosphären sind, aber spürt, wie sie sind und erlebt ihre Wirkung auf sich; atmosphärische Erfahrungen verleihen somit ein phänomenales Wissen. Des Weiteren widerstehen Atmosphären deskriptiven Bemühungen und regen deshalb Theoretiker:*innen dazu an, spezifische Methoden ihrer kontrollierten und systematischen Erfassung zu entwickeln, wie Hasses »Mikrologien«[30]. Atmosphären lassen sich nicht ausschließlich auf der Grundlage von Informationen rekonstruieren, ohne ihnen ausgesetzt zu sein, jedoch können manche kognitiven Elemente ihre Erfahrung beeinflussen. Die Situativität ihres Erlebens ebenso wie Variationen der Sensibilität des Subjekts für Atmosphären erschweren Verallgemeinerungen in Bezug auf ihren Charakter und insbesondere auf ihre Intensität, denn die Erfahrung einer Atmosphäre entsteht aus der Begegnung zwischen der bestehenden Stimmung in einem Raum und der vorherigen Stimmung eines Subjekts[31], woraus sich Erfahrungen der Syntonie oder Dystonie zwischen der eigenen affektiven Disposition und der äußerlich spürbaren ergeben. Mehr noch, die Präsenz von Menschen in einem Raum vermag die bestehende Atmosphäre selbst zu modulieren oder zu modifizieren. Kurz gesagt, atmosphärische Erfahrungen sind zugleich mächtig und fragil, prägend, wenn auch vergänglich, eindeutig und diffus.
Andere Paradoxien und offene Fragen ergeben sich aus der Möglichkeit einer gezielten Gestaltung von Atmosphären. Künstlerische und sonstige gesellschaftliche Praktiken vollziehen mediale Konstruktionen von Atmosphären mit spezifischen Mitteln, die auch Diskurse der Medienästhetik auf den Plan rufen. Dabei bleibt aus ästhetisch-theoretischer Perspektive offen, ob das Atmosphärische rein deskriptiv zu verstehen ist oder auch – zumindest latent – präskriptive Elemente enthält: Gibt es überhaupt Räume und Situationen, die keine Atmosphäre ausstrahlen, oder sind Atmosphären allgegenwärtig (in welchem Fall ihre philosophische Untersuchung als noch dringlicher erscheint)? Kennt die atmosphärische Qualität Steigerungsgrade und wenn ja, gehört die Inszenierung von Atmosphären nicht nur zu den expressiven Mitteln der ästhetischen Praxis, sondern auch zu ihren Idealen? Was unterscheidet die gelungene Inszenierung einer Atmosphäre von einer misslungenen, und wie lässt sich das Gefühl dieser Differenzierung objektiv begründen? Warum erscheint manch eine gespürte Atmosphäre kompromittiert, wenn sie gerade als gezielt inszeniert erahnt wird? Ist das atmosphärische Design immer erwünscht, und wie könnte eine Ästhetik der Atmosphäre kontext- und medienspezifisch ausgearbeitet werden usw.?
Auf urbane Räume angewendet: Wie entsteht der unverwechselbare Charakter einer Stadt aus einer fluktuierenden Konstellation spezifischer lokaler Atmosphären, zu der Menschenmassen (meistens Stadtbewohner:innen, aber auch Tourist:innen) nicht intendiert und halb bewusst beitragen, ebenso wie durch geplante stadtplanerische und architektonische Maßnahmen? Wieviel davon ist intendiert (etwa im Kontext des inzwischen global gewordenen großstädtischen Wettbewerbs) und was entsteht aus alltäglichen Praktiken durch »Verdichtung«?[32] Ist die Kultivierung des atmosphärischen Gespürs – als Leitmotiv der Theorie der Atmosphäre – ein unbedingtes Desiderat? Einerseits wächst die praktische Relevanz des Spürens von Atmosphären in zunehmend unübersichtlich werdenden gesellschaftlichen Kontexten; wo keine Regeln mehr helfen, trägt die Sensibilität gegenüber dem, was »in der Luft liegt«, zur Orientierung bei. Andererseits kann eine gesteigerte Sensibilität auch die Verletzlichkeit von »Patheuren« verschärfen, Unwohlgefühle verstärken oder sogar alte Traumata aktualisieren. Während die Fokussierung auf Emotionalität und Sensibilität in der Theorie der Atmosphäre den Verdacht eines neoromantischen Ansatzes (wiewohl als berechtigte Reaktion auf eine rationalistische Einseitigkeit) weckt, steckt in der Theoretisierung der Atmosphären mit ihren Anforderungen, zu spüren und über das Gespürte zu reflektieren, auch ein emanzipatorisches Potential. In dieser Hinsicht lässt sich erhoffen, dass die fühlend-reflexive Beschäftigung mit Atmosphären zur Entlarvung von manipulierenden Absichten beitragen kann, die gerade in der Spätmoderne hinter der Inszenierung von Atmosphären in nicht-künstlerischen Kontexten durch systematisch entwickelte Emotionalisierungsstrategien erahnt werden (und Werbespots, Wahlkämpfe, das Mediendesign, das Event-Design und die Populärkultur liefern unzählige Beispiele dafür). Die Folgerungen in individueller und gesellschaftlicher Hinsicht der Kultivierung der Sensibilität für Atmosphären reichen vom Aufspüren von Diskriminierungen inmitten sogar als egalitär inszenierter Settings bis zur »Kunst«, schlechte (Arbeits- oder Gesellschafts-)Klimata zu positiven Atmosphären zu verwandeln oder durch gestalterisch-atmosphärische Eingriffe die Lebensqualität zu verbessern. Auf beiden Seiten – der Gestaltung und der Wahrnehmung von Atmosphären – ist heutzutage eine atmosphärische Kompetenz unerlässlich, und zwar kulturübergreifend.
literatur
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Hasse, Jürgen: Was Räume mit uns machen – und wir mit ihnen. Kritische Phänomenologie des Raumes. Freiburg, München: Alber: 2014.
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Wiesing, Lambert: Das Mich der Wahrnehmung. Eine Autopsie. Frankfurt: Suhrkamp, 2009.
Zumthor, Peter: Architektur Denken. Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser, 2006.
Zumthor, Peter: Atmosphären. Architektonische Umgebungen. Die Dinge um mich herum. Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser, 2006.
[1] Das Netzwerk wurde von Jean-Paul Thibaud initiiert, gibt eine eigene Zeitschrift heraus und veranstaltet heuer ihren fünften internationalen Kongress (https://www.ambiances.net).
[2] mimesisinternational.com/category/atmospheric-spaces/
[3] Binswanger: »Der gestimmte Raum«. In: ders.: Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, Bd. 2, 195–220.
[4] Bollnow: Schriften Bd. I.
[5] Bollnow: Die pädagogische Atmosphäre.
[6] Bollnow: Mensch und Raum.
[7] Tellenbach: Geschmack und Atmosphäre.
[8] Ebd., 9.
[9] Siehe vor allem Schmitz: System der Philosophie III.2. Der Gefühlsraum.
[10] Schmitz: Atmosphären, 50.
[11] Schmitz: New Phenomenology. Dieser folgte 2023 eine weitere Übersetzung im selben Verlag (Schmitz: Atmospheres).
[12] Diaconu: »Eine japanische Phänomenologie der Atmosphäre« (zu: Ogawa: Phenomenology of Wind and Atmosphere, 2021), in: polylog 51 (diese Ausgabe), 128.
[13] Böhme: Für eine ökologische Naturästhetik.
[14] Böhme, Atmosphäre; ders.: Anmutungen: Über das Atmosphärische.
[15] Ders.: Aisthetik.
[16] Häufig verwendete Beispiele von Halbdingen sind gleichsam verselbstständige sinnliche Qualitäten wie Leere, Schwere, aber auch Blicke und Farben, Laute und Stimmen, Gerüche oder die Modalität von Gesten, ebenso wie natürliche Phänomene (Wind, Sturm, Nacht, Kälte).
[17] Es handelt sich um die deutschen Mystiker, Goethe, die deutsche Romantik und Heideggers Begriffe der Befindlichkeit und Stimmung. Später fügte Böhme Benjamins Aura und Adornos »Mehr« hinzu.
[18] Heibach: »Einleitung«.
[19] Tellenbach selbst beleuchtete den Konnex zwischen Witterung und »wittern« im weiten Sinne eines atmosphärischen Gespürs, das wohlgemerkt Menschen mit anderen Tieren teilen.
[20] Vgl. Griffero: The Atmospheric »We«, vor allem den darin enthaltenen Aufsatz »Two Oppressive Atmospheres. Permanent Emergency (Including Covid) and the Uncanny«, 175–199.
[21] Hasse: »Die Stadt als Raum der Patheure«. In: ders.: Was Räume mit uns machen – und wir mit ihnen, 43–48.
[22] Griffero unterschied zwischen prototypischen (objektiven, äußerlichen, nicht-intentionalen) Atmosphären, abgeleiteten und relationalen Atmosphären (objektiv, äußerlich, jedoch gezielt gestaltet) und unechten (»spurious«) Atmosphären (subjektiv, projektiv). (Griffero: The Atmospheric »We«, 38)
[23] Siehe z. B. Peter Zumthors Studien zu Atmosphären in Atmosphären und Architektur Denken.
[24] Vgl. Heibach: »Manipulative Atmosphären«.
[25] Die Bandbreite der Erzeuger von Atmosphären zeigen Böhmes Ausführungen zu synästhetischen Charakteren (als Erzeuger von Synästhesien), Szenen (für Stimmungen), Insignien und Symbolen (für gesellschaftliche Charaktere), Formen und Volumina (für Bewegungsanmutungen), Gesten, Mimik, Stimmfärbung und Physiognomie der Personen (als Auslöser kommunikativer Atmosphären) (Böhme: Aisthetik).
[26] Schmitz: Atmosphären, 45.
[27] Griffero: »›All Out‹: Atmospheric Ontology« und »Principles of a Phenomenology of Atmospheres«. In: ders.: Atmospheres: Aesthetics of Emotional Spaces, 119–141.
[28] Siehe z. B. Böhme: »Die Formation des Subjekts«, in ders.: Ich-Selbst, 11–54; Wiesing: Das Mich der Wahrnehmung, Waldenfels: »Leibliches Responsorium«, in ders: Das leibliche Selbst, 365–393 u. a.
[29] Böhme führte die Ästhetik der Atmosphären explizit gegen den Logozentrismus der westlichen Kunsttheorie ein.
[30] Zur Methode der Mikrologien vgl. Hasse: »›Mikrologien‹ – Autopsien des Infra-Gewöhnlichen« und »Zur Methode der Mikrologien«. In: ders.: Die Aura des Einfachen, 21–33 und 44–91.
[31] Heidegger folgend kann sich kein Mensch prinzipiell der Befindlichkeit entziehen: »Befindlichkeit hat je ihr Verständnis, wenn auch nur so, daß sie es niederhält. Verstehen ist immer gestimmtes.« (Sein und Zeit, §31, S. 142)
[32] Vgl. Diaconu: »›Es liegt in der Luft.‹ Gerüche der städtischen Atmosphären«, In: dies.: Sinnesraum Stadt, 177–200.