Die Allgegenwärtigkeit, Komplexität und Vielfalt der Erzeugung und Erfahrung von Atmosphären kennzeichnet interkulturelle Ansätze, die sich mit diesem Konzept in unterschiedlichen Kontexten (geographisch, ökologisch, historisch, ethisch, politisch, religiös usw.) auseinandersetzen. Im Vergleich zur Philosophie scheint das Grenzbewusstsein in der Ästhetik, die sich mit Gefühlen, Erfahrungen und Emotionen beschäftigt, weniger ausgeprägt zu sein[1]. Interkulturell orientierte Ästhetik kann sich daher weitgehend mit den ästhetischen Denk- und Erfahrungsweisen verschiedener Kulturen auseinandersetzen. Im Kern geht es dabei nicht um das Sammeln und Sichten exotischer ästhetischer oder künstlerischer Objekte oder um den bloßen Vergleich ästhetischer Ansätze aus anderen Kulturen, sondern um ein radikales Umdenken der Grundlagen der Ästhetik in einem polylogischen Kontext und damit um einen Beitrag zur Diskussion bestimmter Sachthemen.
Die Diskussion um den Begriff Polylog wurde bisher vor allem in der Philosophie geführt. Eine Inspiration dieses Begriffs lässt sich auf die Worte Herders in seinen Werken Briefe zur Beförderung der Humanität zurückführen, die zwischen 1793 und 1797 geschrieben wurden: »Kein Volk sei ein von Gott einzig auserwähltes Volk der Erde; die Wahrheit müsse von allen gesucht, der Garten des gemeinen Bestens von allen gebaut werden. Am großen Schleier der Minerva sollen alle Völker, jedes auf seiner Stelle, ohne Beeinträchtigung, ohne stolze Zwietracht wirken.«[2] Heinz Kimmerle hält die polylogische Methode für den richtigen Weg, aufgrund der Tatsache, dass sich interkulturelle Philosophie methodologisch »als eine Vielzahl von Dialogen zwischen den Philosophien der verschiedenen Kulturen«[3] vollzieht. »Wichtig ist, dass in Bezug auf Einzelfragen die historischen Potenziale der Philosophien verschiedener Kulturen ins Spiel gebracht werden und zusammenwirken.«[4] Franz Martin Wimmer weist auf die Wichtigkeit hin, das Konzept Polylog in die interkulturelle Philosophie einzuführen: »In interkulturell orientierter Philosophie sind Verfahrensweisen zu entwickeln, die sowohl einen voreiligen Universalismus wie einen relativistischen Partikularismus vermeidbar machen. Dafür ist es eine notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung, die anderen Stimmen hörbar zu machen, wie gelegentlich formuliert wird – es muss nicht nur gefragt werden, was diese sagen und warum sei es sagen, sondern immer auch mit welcher Berechtigung und aus welchen Überzeugungsgründen.«[5] Für Wimmer besteht die Bedeutung eines polylogischen Verfahrens darin: »Thematische Fragen der Philosophie – Fragen nach der Grundstruktur der Wirklichkeit, nach deren Erkennbarkeit und nach der Begründbarkeit von Werten und Normen – sind so zu diskutieren, dass jeder behaupteten Lösung ein Polylog möglichst vieler Traditionen vorangeht. Dies wieder setzt eine Relativierung der in den einzelnen Traditionen entwickelten Begriffe und Methoden ebenso voraus wie einen neuen, nichtzentristischen Blick auf die Denkgeschichten der Menschheit.«[6]
Eine am Polylog orientierte Methode geht also über einen absoluten Essentialismus oder radikalen Relativismus hinaus. Die Aufgaben eines Polylogs lassen sich in drei Punkte zusammenfassen. Erstens geht es darum, die mit den verschiedenen geopolitischen Perspektiven verbundenen Zentrismen zu überwinden, sei es für intra- oder extrakulturelle Studien. Zweitens fördert der polylogische Ansatz durch die Kontextualisierung und Konkretisierung der Fragestellungen einen Perspektivenwechsel, der es ermöglicht, die eigenen blinden Flecken zu entdecken. Schließlich trägt dieser Ansatz zur Entwicklung einer toleranten und pluralistisch-demokratischen Haltung bei. Dabei wird keiner Kategorie, Theorie oder Norm a priori der Vorrang eingeräumt. Stattdessen nähert man sich auf bescheidene Weise ein und demselben Gegenstand oder etwas Ähnlichem, das in verschiedenen Kulturen wahrscheinlich unterschiedliche Namen trägt.
Die polylogische Methode führt zu einem offeneren und inklusiveren Zugang zur Interkulturellen Ästhetik. Sie bezieht möglichst alle Interessenpole mit ein und betont die gegenseitige Befruchtung der Kulturen, indem sie davon ausgeht, dass gut begründete ästhetische Thesen in mehr als einer kulturellen Tradition entwickelt wurden. In gewissem Sinne ist der Polylog nichts anderes als eine Art Polyphonie. Auf dieser Grundlage können ästhetische Diskussionen so geführt werden, dass jeder postulierten Lösung Debatten aus möglichst vielen Kulturen vorausgehen. Diese Debatten können in jedem Bereich der Ästhetik geführt werden (Grundfragen, Begriffssprachen, Ausdrucksformen, Medien, Methoden; Grundstruktur und Erkennbarkeit der ästhetischen Wirklichkeit; Begründbarkeit ästhetischer Werte und Normen usw.). Auf dieser Grundlage konzentriert sich der Polylog auf die transkulturellen Überschneidungen ästhetischer Formen und arbeitet daran, die Ästhetik in gemeinsamer Anstrengung voranzubringen.
Im Sammelband Komparative Ästhetik[7] (2001) fasste Elberfeld im Sinne des polylogischen Prinzips die Aufgaben der interkulturellen Ästhetik folgendermaßen zusammen: »Die Inhalte […der interkulturellen Ästhetik] beziehen sich nicht nur auf die Theoriebildung, sondern zunächst darauf, wahrzunehmen, was in der eigenen und in der anderen Tradition unter ›Schönheit‹, ›ästhetischer Erfahrung‹ und den ›Künsten‹ verstanden wird. Bei der kontrastierenden Betrachtung kann sich herausstellen, daß in den Traditionen unterschiedliche Einteilungen und Gewichtungen dieser Phänomene vorgenommen wurden, die nicht miteinander kompatibel sein müssen.«[8] Nach Elberfelds Auffassung besteht die Absicht einer interkulturellen Ästhetik nicht nur in der Konstruktion allgemeiner ästhetischer Theorien, sondern auch in empirischen Feldforschungen von ästhetischen Praktiken in jeweiligen Kulturen. Demnach umfassen die relevanten Themenfelder einen Vergleich der Verständnisse von ästhetischen Kernphänomenen (Schönheit, ästhetische Erfahrung, Künste usw.) in unterschiedlichen Traditionen, die sowohl Kompatibilitäten als auch Inkompatibilitäten aufweisen.
Vor diesem Hintergrund erscheint ein rein theoretischer Ansatz wenig zielführend. Vielmehr kann der Weg »[i]m Spannungsfeld zwischen empirischer Kulturwissenschaft und philosophischer Reflexion«[9] gefunden werden. Die Kommunikation über interkulturelle Ästhetik kann sich nicht nur auf Texte stützen, sondern erfordert auch den Einsatz sinnlicher Medien bzw. des Körpers. Wenn Menschen aus verschiedenen Kulturen gemeinsam tanzen, performen, singen oder malen, entsteht im Zusammenspiel der verschiedenen Handlungsformen eine Resonanzstruktur. Insofern kann eine zeitgemäße Wiederbelebung der Ästhetik im Sinne einer sinnlichen Wahrnehmungslehre eine interkulturelle Ästhetik theoretisch und praktisch voranbringen.
Inspiriert vom Konzept des Polylog, wird die Ästhetik der Atmosphären eine interkulturell orientierte Ästhetik vorantreiben. In diesem Zusammenhang erinnert sie uns daran, dass das ästhetische Konzept einer bestimmten Kultur aus der jeweiligen Befindlichkeit heraus entstanden ist und durch den Austausch mit Ideen aus anderen kulturellen Befindlichkeiten ergänzt und verbessert werden kann. Die Atmosphären-Ästhetik hat daher einen sanften Charakter. Ryosuke Ohashi bemerkt: »Als sanft wird etwas dann empfunden, wenn es beim Zusammentreffen das andere nicht gleich zurückstößt, sondern in sich aufnimmt. In der materiellen Welt findet man überall solch ein mehr oder weniger weiches und sanftes Material. Der Unterschied zwischen hart und sanft bzw. weich ist in der materiellen Welt allerdings immer nur relativ.«[10] Die Sanftheit ist auch ein integraler Bestandteil jeder Kultur, deren Intensität davon abhängt, »ob und wie lebendig und ergiebig dieser sanfte Kulturboden ist«.[11] Im Hinblick auf die Atmosphären-Ästhetik, die sich ja mit dem Befinden in einer Umgebung beschäftigt, liegt ihre Sanftheit vor allem darin, dass sie in ihrer anti-essentialistischen Ausrichtung ein Potential der Inklusivität aufweist, das den kulturbedingten und kulturübergreifenden Kräften semantischer Konstruktionen gerecht werden kann.[12]
Im Vergleich zu den sporadischen Studien in anderen außereuropäischen Regionen hat die philosophisch-ästhetische Reflexion über Atmosphären in Ostasien eine längere Geschichte und wurde in die Konstruktion klassischer Konzepte wie Qi/Ki, Yi
(易), Wabi-Sabi integriert.
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Erforschung der Atmosphären-Ästhetik in Ostasien im Austausch mit europäischen Neuen Phänomenolog:innen weiterentwickelt. Zu den Wissenschaftler:innen, die wegweisende Beiträge auf diesem Gebiet geleistet haben, gehören Watsuji Tetsuro, Kenichi Sasaki, Tadashi Ogawa, Yuho Hisayama, Peng Feng (彭鋒), Gudula Linck, Rolf Elberfeld, Hsi-san Lai, Matthias Obert, Fabian Heubel und Zhuofei Wang.[13] Darüber hinaus veranstaltete Heubel gemeinsam mit Elberfeld am Institut für Philosophie der Universität Hildesheim das »Seminar zur Theorie und Praxis klassisch chinesischer Literatenkünste«[14], um »Fragen [...] der Energien, der Persönlichkeitsentwicklung, der Leiblichkeit, der Übung, der verwendeten Materialien, der Bewegung, der Natur und der zwischenmenschlichen Beziehung«[15] zu diskutieren.
2018 erschien die chinesische Ausgabe von Böhmes Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik (Suhrkamp, Ausgabe 2013) bei China Social Science Press in Peking unter dem Titel 氣氛美學 (Qi Fen Mei Xue), übersetzt von Jia Hongyu (賈紅雨), der bei Welsch an der Universität Jena studierte. Damit wurde die Atmosphären-Ästhetik zum ersten Mal in China eingeführt und hat eine sehr breite Aufmerksamkeit unter chinesischen Wissenschaftler:innen gefunden. Viele glauben, dass die Atmosphären-Ästhetik in der chinesischen Tradition Widerhall und Bausteine finden kann. Systematische Untersuchungen zum Verhältnis von Atmosphärenästhetik und chinesischer Ästhetik scheinen bisher jedoch unzureichend. Ein wichtiger Grund dafür ist die mangelnde Übersetzung fremdsprachiger, insbesondere deutscher Literatur. Vielfach basieren die Untersuchungen noch auf dem Werk 氣氛美學 (Qi Fen Mei Xue).
Im Austausch können nicht nur terminologische Übersetzungsschwierigkeiten, sondern auch Konsonanzen mit dem relationalen Denken in europäischen und außereuropäischen philosophischen Traditionen entdeckt werden. Dies würde dazu beitragen, kulturelle Austausche in Richtung eines fruchtbaren Polylogs voranzutreiben. Als Grundbegriff der ostasiatischen Denktradition bildet Ki (気)/Qi (氣) die Basis für das philosophische Verständnis der Atmosphäre. Nach Obert offenbart das Schriftzeichen Qi
(氣) »einen vielschichtigen Zusammenhang von Phänomenen innerhalb chinesischer Welterfahrung und Weltauslegung«.[16] In diesem Sinne sollte Qi (氣) »als ein zentrales Paradigma in der philosophischen Bestimmung der Welt und des Menschseins«[17] verstanden werden. Entsprechend vielfältig sind die Interpretationen und Übersetzungen dieses Begriffs, wie Linck feststellt: »Das Konzept qi [...] gehört neben dao, yin und yang zweifellos zu den grundlegendsten Begriffen des chinesischen Denkens. Die vielfältigen Übersetzungsvorschläge reichen von Atem, Hauch, Dampf über Pneuma, Äther, Fluidum, Einflüsse, Kraft und konstellierte Energie bis hin zu Weltstoff, Substanz und Materie-Energie (matter-energy).«[18] In der Tat ist die Diskussion um Ki (気) / Qi (氣) und Atmosphäre nicht auf ostasiatische Kulturen beschränkt. Entsprechende Überlegungen finden sich auch in den antiken griechischen und jüdischen Kulturen, was sich insbesondere in der Diskussion um Pneuma (griech. πνεῦμα) widerspiegelt. Pneuma bezieht sich auf ein Lebensprinzip, die Verbindung zwischen Atemluft und Geist. Ogawa untersucht die Diskussionen über das Pneuma in Platons Timaios und Johannes (3:8). Bei Platon ist Pneuma der Ausdruck bestimmter mathematischer Beziehungen, die das menschliche Leben beeinflussen, neue Individuen hervorbringen und schließlich Veränderungen in der Regierung der Republik regeln.[19] Bei Johannes (3:8) ist Pneuma ursprünglich der Atem Gottes, der sowohl als Wind als auch als Seele erscheint. Als Sohn des Windes wird der Mensch aus dem Wind (Pneuma) und spirituellem Ki (Reiki) geboren.[20] Auf dieser Grundlage gibt Ogawa eine kulturübergreifende Einschätzung: »Human beings exist like wind does, their existence is spiritual. And as a matter of fact, it is by breathing that we live.«[21]
Ein weiterer interessanter Vergleich betrifft die Wechselwirkung zwischen Räumlichkeit und Zeitlichkeit von Atmosphären. Sowohl Schmitz’ Halbding als auch Böhmes Quasi-Objekt zielen darauf ab, die Dingontologie der europäischen Denktradition zu kritisieren und unsere Aufmerksamkeit auf den Einfluss dinglicher Qualitäten (Farbe, Licht, Geruch usw.) auf die affektive Erfahrung zu lenken. Dennoch finden sich in ihrer Auseinandersetzung mit dem Dinglichen mehr oder weniger Spuren eines Entitätsmodells[22]. Dies zeigt sich insbesondere darin, dass Atmosphäre als etwas Räumliches definiert wird. Eine Grundlage dafür geht auf Schmitz zurück – atmosphärische Phänomene sind vor allem raumartige, randlos ergossene Kräfte[23]. In seinem Buch Atmospheres: aesthetics of emotional spaces widmet sich Tonino Griffero den grundlegenden Auswirkungen von Atmosphären auf die Lebenserfahrung und der Entwicklung einer Lehre namens atmospherology, die ontologische, epistemologische, mediale, soziale und ästhetische Dimensionen umfasst[24]. Auf dieser Grundlage hat Griffero eine Buchreihe mit dem Titel Atmospheric Spaces ins Leben gerufen[25].
Die Räumlichkeit der Atmosphäre ist nicht statisch, sondern durch eine Entwicklungsdynamik gekennzeichnet. Jean-Paul Thibaud unterstreicht den zeitlich-dynamischen Charakter des atmosphärischen Raumes. Für ihn sind atmosphärische Räume »keine stabilen und unwandelbaren Zustände, sondern eher dynamische Prozesse, die verschiedene Phasen durchlaufen, von denen jeweils eine zur nächsten führt.«[26] Die Räumlichkeit der Atmosphäre (wie die Atmosphäre des Hörens oder des Riechens) ist nicht statisch, sondern durch Entstehen, Verstärken, Abschwächen und Verschwinden gekennzeichnet. In diesem Sinne ist die zeitliche Dimension in die Räumlichkeit integriert.
Im ostasiatischen Denken ist es allgemein akzeptiert, »dass es auf der Welt keine absolut stabile Ordnung gibt und alles sich in ständiger Erneuerung befindet – gleichgültig, ob es sich nun um Sichtbares oder um Unsichtbares handelt.«[27] Dementsprechend hat in der atmosphärischen Erfahrung die Zeitlichkeit Vorrang vor der Räumlichkeit, während die Räumlichkeit eher einen flüchtigen Moment in einem sich ständig verändernden Weltprozess darstellt. Dies spiegelt sich deutlich in den klassischen Konzepten von Yi (易) und Wabi-Sabi wider.
Im chinesischen Denken steht Yi (易) nicht im Zusammenhang »mit Schöpfung im demiurgischen Sinne [...], sondern hängt mit einer kontinuierlichen Transformation zusammen, die die Fortsetzung und ständige Erneuerung des Lebens sichert«[28]. Das Konzept des Yi (易) »lässt sich auf das klassische Buch I Ging zurückführen«[29], wonach »die Welt als ein großes Kontinuum des Lebens [… anzusehen ist], das endlose Modifikationen enthält.«[30] Der Vorrang der Zeitlichkeit vor der Räumlichkeit in der atmosphärischen Erfahrung spiegelt sich auch im Konzept Wabi-Sabi[31] wider, das im Wesentlichen vom japanischen Zen-Buddhismus beeinflusst ist. Dem Buddhismus folgend erinnert uns Wabi-Sabi an die Unvollkommenheit des Lebens (auch des Menschen selbst) und lehrt uns, Vergänglichkeit, Unperfektheit und Unvollständigkeit in einem positiven Licht zu erfahren[32]. Es geht um das Gefühl eines perfekten Augenblicks in einer unvollkommenen Welt[33], wie Elberfeld betont: »Hier ist gerade nicht das Ewige in Form eines Ideals zu realisieren, sondern vielmehr eine Tiefenerfahrung der Unbeständigkeit selber, die zugleich die Erfahrung der eigenen Sterblichkeit ist«[34].
Die bisherige Forschung der Atmosphären hat sich auf europäische und ostasiatische Theorien und Praktiken konzentriert. Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Arbeit eine Fortsetzung des Ost-West-Paradigmas ist, das sich seit Beginn des 20. Jahrhunderts herausgebildet hat. Es handelt sich auch nicht um eine rein regionale Studie. Atmosphären sind überall! Sie manifestieren sich in einer bunten Vielfalt, je nach Kultur, Ort und Zeit.
Die Komplexität der Atmosphären-Erfahrungen deckt eine Vielfalt der Lebenserfahrungen auf, die nie abschließend dargestellt werden können. Dementsprechend erhebt das ästhetische Konzept der Atmosphären keinen alleinigen Deutungsanspruch, sondern entwickelt einen eigenen Ansatz, der wiederum für andere Formen der ästhetischen Ansätze nicht zu unterschätzen ist. Dieser Ansatz ermöglicht nicht nur ein Nachdenken über die Reichweite und Grenzen der klassischen Termini Europas, die in der Regel mit Substanz und Entität verwandt sind, sondern eröffnet gleichzeitig weitgehend neue Horizonte für eine global orientierte Ästhetik. Hier bezieht sich die globale Dimension auf jene Befindlichkeiten, die die komplexe Einheit von Sinnlichkeit, Affektivität und Spiritualität unter verschiedenen Bedingungen (historisch, geographisch, ethnisch, ethisch, politisch, religiös usw.) darstellen und dadurch ihre jeweiligen kulturellen Herkünfte und Identitäten offenbaren, sowie auf deren Kompatibilität, Verflochtenheit, Übergang und Inkompatibilität. Der durch den polylogischen Austausch ermöglichte Perspektivenwechsel würde blinde Flecken in unserer ästhetischen Wahrnehmung aufdecken, die durch gewohnte ästhetische Ausschlussmechanismen entstanden sind, und so dazu beitragen, eine andere (und vielleicht bessere!) Version von uns selbst zu entdecken.
Derzeit steckt eine globale Untersuchung zur Atmosphären-Ästhetik noch in den Kinderschuhen. Neben Grifferos internationalem Netzwerk Atmospheric Spaces ist eine der jüngsten institutionellen Entwicklungen in dieser Richtung das von Yuho Hisayama, einem Schüler Böhmes, gegründete Institut 神戸雰囲気学研究所(KOIAS) an der Universität Kobe[35]. In Zusammenarbeit mit Jie Wang organiserte Zhuofei Wang am 16. und 17. September 2022 die Online-Konferenz Aesthetics of Atmosphere in an Intercultural Perspective. Sie sollte die erste Konferenz zu diesem Thema auf der Grundlage des Polylog sein. Mehr als 60 Wissenschaftler:innen weltweit (Afrika, Lateinamerika, Asien, Europa, Nordamerika usw.) hielten Vorträge zu folgenden Themen: Atmosphären-Ästhetik und kulturelle Traditionen; kulturelle Atmosphären, interkulturelle Atmosphären und transkulturelle Atmosphären; Atmosphären und klassische ästhetische Konzepte; Atmosphären, Raum und Zeit; Atmosphären und Medien; Atmosphären, Kunst und Alltag; Atmosphären und Design etc. In seiner Eröffnungsrede wies Rodrigo Duarte, Präsident der International Association for Aesthetics (IAA), darauf hin, dass die Atmosphären-Ästhetik als neues Forschungsgebiet zunehmend an Aufmerksamkeit gewinnt. Einerseits nehmen wir Atmosphären überall im Alltag wahr. Andererseits manifestieren sich Atmosphären je nach Zeit, Ort und Situation auf vielfältige Weise. Eine ästhetische Untersuchung kann daher zu einer vertieften Reflexion über die politische und ethische Bedeutung von Atmosphären beitragen. Als Ergebnis der Diskussionen auf der Konferenz wird im Oktober 2024 eine Sonderausgabe »Atmospheric Aesthetics and Design Practices«, herausgegeben von Zhuofei Wang und David Brubaker, in der Online-Zeitschrift Contemporary Aesthetics[36] (Editor-in-Chief: Yuriko Saito) erscheinen.
Zhuofei Wangs Buch Atmosphären-Ästhetik: Die Verflochtenheit von Natur, Kunst und Kultur[37] (2024) sollte die erste Monographie sein, die eine polylogische Perspektive auf Atmosphären einnimmt und sich den relevanten Diskursen und Praktiken in westlichen und nicht-westlichen Kontexten widmet. Dabei wird die induktive Heuristik eine grundlegende Forschungsmethode darstellen, die durch eine Sammlung von interdisziplinären, fragenorientierten Ansätzen (Interkulturelle Philosophie, Leibphänomenologie, Kritische Theorie, Kulturanthropologie, Umweltethik, Sprachphilosophie, Kunstgeschichte, Bild-, Medien- und Designtheorie etc.) unterstützt wird. Auch fernöstliche Dimensionen (Daoismus, Buddhismus, Feng-Shui-Lehre etc.) werden in diesem Zusammenhang berücksichtigt.
Die interkulturell orientierte Atmosphären-Ästhetik steht erst am Anfang ihrer Entwicklung. Insbesondere auf der Ebene der philosophischen Reflexion ist hier noch viel zu tun. Es mangelt derzeit deutlich an historischen und systematischen Ergebnissen, die diese Richtung grundlegend untermauern. Angesichts des Reichtums an Kulturen, Traditionen und Regionen kann das vorliegende Heft weder die ästhetischen Diskurse über die Atmosphäre erschöpfend darstellen noch Aspekte der äußerst lebendigen und komplexen atmosphärischen Szene beleuchten. Es wäre jedoch erfreulich, wenn die fünf Beiträge dieser Ausgabe, die in unterschiedlichen kulturellen Kontexten (arabisch, brasilianisch, europäisch, indisch, japanisch) verwurzelt sind und das Ost-West-Paradigma überwinden, auf das globale Potenzial des Themas Atmosphären aufmerksam machen und damit eine breitere Diskussion anregen könnten.
literatur
Böhme, Gernot: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2013.
Böhme, Gernot: Aisthetik: Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München: Wilhelm Fink, 2001.
Diaconu, Mădălina: »Interkulturelle Ästhetik als Spielraum zwischen interkultureller Philosophie und Ästhetik«. In: Sonderdruck Ästhetik, polylog 9. Zeitschrift für Interkulturelles Philosophieren, hg. von Rolf Elberfeld, 2003, 6–20.
Elberfeld, Rolf: »Komparative Ästhetik – Eine Hinführung«. In: Komparative Ästhetik. Künste und ästhetische Erfahrungen zwischen Asien und Europa, hg. v. Rolf Elberfeld und Günter Wohlfart. Köln: edition, chōra, 2000, 9–25.
Elberfeld, Rolf: »Philosophie und ästhetische Praxis«. In: Ästhetische Praxis als Gegenstand und Methode kulturwissenschaftlicher Forschung, hg. v. Rolf Elberfeld und Stefan Krankenhagen. Paderborn: Wilhelm Fink, 2017, 171–189.
Elberfeld, Rolf: »Aesthetics of breathing«. In: Atmospheres of breathing, hg. v. Lenart Škof und Petri Berndtson. Albany: State University Press of New York, 2018, 69–79.
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Heubel, Fabian: Was ist chinesische Philosophie? Hamburg: Felix Meiner, 2021.
Kempton, Beth: Wabi-Sabi. Die japanische Weisheit für ein perfekt unperfektes Leben. Köln: Bastei Lübbe AG, 2018.
Kimmerle, Heinz: Interkulturelle Philosophie zur Einführung. Hamburg: Junius, 2002.
Hisayama, Yuho: Erfahrungen des ki – Leibessphäre, Atmosphäre, Pansphäre. Eine transkulturelle Phänomenologie der Sphären. Freiburg: Karl Alber, 2014.
Lai, Hsi-san: Zhuangzi’s Intercultural Weaving: Nature, Qi, and Body [chin.]. Taipei: National Taiwan University Press, 2019.
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Thibaud, Jean-Paul: »Die sinnliche Umwelt von Städten. Zum Verständnis urbaner Atmosphären«. In: Die Kunst der Wahrnehmung. Beiträge zu einer Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, hg. v. Michael Hauskeller. Kusterdingen: Die Graue Edition, 2003, 280–297.
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Wang, Zhuofei: Atmosphären-Ästhetik: Die Verflochtenheit von Natur, Kunst und Kultur. Freiburg: Karl Alber, 2024.
Welsch, Wolfgang: Blickwechsel. Neue Wege der Ästhetik. Stuttgart: Reclam, 2012.
Wimmer, Franz Martin: Interkulturell Philosophie. Wien: Facultas/WUV, 2004.
[1] Vgl. Diaconu: Interkulturelle Ästhetik, 9.
[2] Herder: Briefe, 218.
[3] Kimmerle: Interkulturelle Philosophie, 11–12.
[4] Kimmerle: Interkulturelle Philosophie, 12.
[5] Wimmer: Interkulturelle Philosophie, 26.
[6] Wimmer: Interkulturelle Philosophie, 26–27.
[7] Interkulturelle Ästhetik wird oft als eine neue Richtung der komparativen Ästhetik mit einer relativ langen Geschichte angesehen. Das von Henckmann und Lotter herausgegebene Lexikon der Ästhetik definiert interkulturelle Ästhetik als »Erweiterung der komparativistischen (vergleichenden) Ästhetik bzw. Kunstwissenschaft« (109). Nach Ortland kann jeder Ästhetik eine komparative Methode zugeschrieben werden. Der Grund dafür ist, dass ein Werturteil eine vorherige Auswahl voraussetzt, die somit als komparativ angesehen werden kann (Vgl. Ortland: Voraussetzungen, 59). In diesem Sinne ist die interkulturelle Ästhetik nur ein »Teil einer allgemeineren komparativen Ästhetik« (Diaconu: Interkulturelle Ästhetik, 12). Sie fungiert »nur als komparative ›Kunst‹-theorie (zwischen mehreren Kulturen) oder als Theorie der Akkulturation im Bereich der ›Kunst‹ und des Lebens-›stils‹« (Ebd., 11). Auch Mall unterscheidet zwischen interkultureller und komparativer Ästhetik. Ihm zufolge ist die erstere die Voraussetzung für die reale Möglichkeit der letzteren. Eine nähere Erläuterung des Verhältnisses beider bleibt bei ihm allerdings aus (Vgl. Mall: Intercultural Philosophy, 40). Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Elberfeld das hier besprochene Buch etwas zurückhaltend mit Komparative Ästhetik betitelte, auch wenn das Werk in hohem Maße einen interkulturellen Ansatz verfolgt.
[8] Elberfeld: Komparative Ästhetik, 14.
[9] Ortland: Voraussetzungen, 57.
[10] Ohashi: Reflexion der nicht-europäischen Moderne, 155.
[11] Ebd., 157.
[12] Vgl. Welsch: Blickwechsel., 129.
[13] Tetsuro: A Climate; Sasaki: Landscape as atmosphere; Hisayama: Erfahrungen des ki; Peng: Aesthetic Imagery; Linck: Yin und Yang; Elberfeld: Aesthetics of breathing; Lai: Zhuangzi’s Intercultural Weaving; Obert: Tanzende Bäume; Ogawa: The Phenomenology of Wind; Heubel: Was ist chinesische Philosophie?; Wang: Atmosphären-Ästhetik.
[14] Elberfeld: Philosophie und ästhetische Praxis, 185.
[15] Ebd., 185f.
[16] Obert: Tanzende Bäume, 167.
[17] Ebd.
[18] Linck: Qi, 200.
[19] Vgl. Ogawa: The Phenomenology of Wind, 9f.
[20] Vgl. Ebd., 15.
[21] Ebd.
[22] Vgl. Böhme: Aisthetik, 159–172.
[23] Vgl. Schmitz: Kurze Einführung, 79.
[24] Vgl. Griffero: Atmospheres, 101–142.
[25] atmosphericspaces.wordpress.com, [01.08.2024].
[26] Thibaud: Die sinnliche Umwelt, 287.
[27] Wang: Atmosphären-Ästhetik, 310.
[28] Ebd.
[29] Ebd.
[30] Ebd.
[31] Mit seiner Wertschätzung des Unvollkommenen, des Mangels und der Unzulänglichkeit entwickelte sich Wabi-Sabi im 16. Jahrhundert als Alternative zum vorherrschenden Streben nach Perfektion und Wohlstand und etablierte sich später als eine der zentralen ästhetischen Kategorien Japans, die insbesondere in der Teezeremonie gefördert wurde (Vgl. Saito: Aesthetics of the Familiar, 205). Saitos Aufsatz »The Japanese Aesthetics of Imperfection and Insufficiency« (1997) widmet sich ebenfalls einer eingehenden Untersuchung des Wabi-Sabi-Konzepts und seiner Entwicklung.
[32] Vgl. Kempton: Wabi-Sabi, 33.
[33] Vgl. Ebd., 18.
[34] Elberfeld: Komparative Ästhetik, 17.
[35] www.lit.kobe-u.ac.jp/koias/members, [01.08.2024].
[36] contempaesthetics.org, [01.08.2024].
[37] Das Buch ist die überarbeitete Fassung der Habilitationsschrift von Zhuofei Wang, die im Januar 2021 unter dem gleichnamigen Titel Atmosphären-Ästhetik: Die Verflochtenheit von Natur, Kunst und Kultur von der Kunsthochschule an der Universität Kassel angenommen wurde.