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Aktuelle Seite: Editorial

Liebe Lesende,

am 12. September war der Schamane Davi Kopenawa Yanomami auf dem Internationalen Literaturfestival Berlin zu Gast, um dort sein kürzlich auf Deutsch übertragenes Buch »Der Sturz des Himmels« vorzustellen. Das Buch eröffnet mit einem Zitat Kopenawas, das diesen Sturz des Himmels beschreibt: »Der Wald lebt. Sterben kann er nur, wenn die Weißen alles daransetzen, ihn zu zerstören. […] Wir werden einer nach dem anderen sterben, die Weißen genauso wie wir. Am Ende werden alle Schamanen zugrunde gehen. Dann, wenn keiner von ihnen überlebt, um ihn festzuhalten, wird der Himmel einstürzen.« Während ich in Berlin nach der Lesung darauf wartete, mir meine Ausgabe von Davi signieren zu lassen, näherte sich ein etwas betagter Herr und fragte mich neugierig: »Was ist das für ein Buch? Worum geht es?« Sehr gute Frage, aber ungleich schwerer sie kurz zu beantworten und so kam ich mit dem fast 1000 Seiten dicken Buch unter dem Arm gehörig ins Stottern. »Eine Welterzählung«, sagte ich zuerst und der Mann fragte ungeduldig weiter, ob es nun ein Roman oder ein Sachbuch sei. Tja, ebenso schwierig. Ich versuchte es weiter: »eine Autoethnographie«, zu technisch, wie ich am Blick meines Gegenübers erkennen konnte. Schließlich las ich dem Herrn das oben schon angegebene Eingangszitat vor. »Sehr interessant, danke«. Immerhin etwas. Am liebsten hätte ich gesagt: Philosophie, wie sie sein soll, aber das ist voraussetzungsreich und wirft auf einem Literaturfestival nicht weniger Fragen auf. Tatsächlich sprengt das Buch alle Gattungen, wie man auch im Ankündigungstext des Verlags lesen kann (hier lassen sich noch die ebenso uneindeutigen Schlagworte »Lebensbericht« und »kosmopolitisches Manifest« finden). Es entzieht sich uns bekannten Genres, aber es bringt sie auch zusammen, es ist in vielerlei Hinsicht ein einzigartiges Buch. Auch die Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte ist alles andere als gewöhnlich: In den 1980er Jahren entsteht zwischen Davi und dem französischen Anthropologen Bruce Albert zunächst eine Freundschaft. Bruce lernt Yanomami und beginnt auf Davis Wunsch, die auf Tonband aufgenommenen Unterhaltungen der beiden zu transkribieren. Über zwanzig Jahre sind die beiden im Gespräch, bis dann 2010 das Buch auf Französisch erscheint. 2013 wird es ins Englische übersetzt, 2015 ins brasilianische Portugiesisch, 2018 liegt es dann auf Italienisch vor. Dieses Jahr, also 2024, folgen kurz hintereinander Spanisch und Deutsch.
Bei der Lesung in Berlin sagt Davi: »Ich habe dieses Buch für euch gemacht«, mit »euch« meint er »uns« weiße (nicht-indigene), Bücher lesende Menschen.  Ich nehme dieses Editorial zum Anlass, die Lektüre allen polylog-Leser:innen wärmstens ans Herz zu legen – in Anbetracht des Sturz des Himmels, ist es das mindeste, was wir tun können.
Auch in diesem Heft geht es um Genres und Gattungen und die immer wiederkehrende Frage: Was ist Philosophie? Ist Philosophie Literatur? Und umgekehrt? Wie immer werden diese Fragen aus verschiedenen Perspektiven untersucht und entsprechend unterschiedliche Antworten entwickelt. Neben dem Thementeil zu Literatur und Philosophie, der diesmal von Bianca ­Boteva-Richter und Hans Schelkshorn herausgegeben wird, findet sich in der offenen Forumsrubrik der von Jörg Ossenkopp verfasste Artikel »Der ›Oasenmann‹ als Philosophie: Ma’at-Sprechen und Kosmopolitik des Atmens«, bei dem ein altägyptischer Text mit daoistischen Konzepten zusammen gelesen wird.
An dieser Stelle möchte ich mich im Namen der polylog-Redaktion ganz herzlich bei unseren Praktikant:innen Laura Reinthaler, Kassian Mitterer und Pius Huber, die intensiv an dieser Nummer mitgewirkt haben, bedanken! Ab Herbst wird uns zusätzlich noch Philipp Quell unterstützen. Herzlich willkommen!

Eine gute Lektüre wünscht,
Lara Hofner

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