In der europäischen Philosophie gibt es seit der Antike eine lange Tradition, in der sich die Philosophie strikt von Literatur bzw. Poetik abgrenzt. Platon verbannte bekanntlich die Mythendichter aus der idealen Polis. Aristoteles widmet zwar der Poetik und Rhetorik eigene Studien; die Philosophie wird jedoch dem logos apophanticus zugeordnet, eine Weichenstellung, die über die scholastischen Traktate der mittelalterlichen Philosophie bis zum Deutschen Idealismus fortwirkt. Nach Kant ist allein die Philosophie qua Vernunft auf die Wahrheit hin orientiert, während Romane und Theaterstücke bloße Erdichtungen, d. h. Produkte der Phantasie seien. Im Namen einer systematischen Vernunft sind daher in Europa außereuropäische Denktraditionen immer wieder als bloße Weisheitssprüche oder poetische Narrationen abgewertet worden.
Die eurozentrische Dichotomie zwischen Philosophie und Literatur entspringt jedoch einer schiefen Optik. Auch in der griechischen Philosophie finden sich keineswegs bloß systematische Traktate. Im Gegenteil, Parmenides eröffnet das Seinsdenken durch ein Lehrgedicht; Heraklit legt seine Lehre bewusst in der Form von Fragmenten nieder; Cicero würdige die Dialoge Platons als literarische Meisterwerke. In den nachidealistischen Philosophien, insbesondere in der Romantik und den Existenz- und Lebensphilosophien, wird auch in Europa der Systemanspruch »der« Philosophie radikal in Frage gestellt. Seit dieser Zeit sind im europäischen Denken die Grenzen zwischen Philosophie und Literatur, wie vor allem bei Nietzsche deutlich wird, fließend.
In zahlreichen Weltregionen ist seit dem 19. Jahrhundert die Entwicklung einer eigenständigen Philosophie maßgeblich durch Schriftsteller:innen mitgeprägt worden. So ist die russische Philosophie im 19. Jahrhundert ohne Dostosjewski oder Tolstoi nicht denkbar. Darüber hinaus übte das interdisziplinäre Wirken Bakhtins einen starken Einfluss nicht nur auf die Literaturwissenschaft, sondern auch auf die Philosophie aus. Angesichts der enormen Bedeutung der Literatur für das russische Denken hat der Philosoph Jakov Golosovker bereits seit den 1920er Jahren die Annahme vertreten, dass die »intellektuelle Fantasie« die Philosophie zu einer Kunst macht, zu einer Kunst des Denkens, (auch) über die Literatur.
Das lateinamerikanische Denken (pensamiento latinoamericano), das sich nach den Unabhängigkeitskriegen gegen Spanien etablierte, ist wesentlich durch philosophierende Literaten entstanden. Im 20. Jahrhundert erlangte die lateinamerikanische Literatur durch Autor:innen wie Jorge Luis Borges, Alejo Carpentier oder Gabriel Marquez weltweite Beachtung. Eine ähnliche Konstellation zeigt sich in Afrika, wo nach dem Zweiten Weltkrieg die Bewegung der Négritude ein zentraler Faktor für den Konstitution einer afrikanischen Philosophie geworden ist. Auch in der neohinduistischen Philosophie stoßen wir, wie das Beispiel Rabindranath Tagore, der als erster Inder die Literaturnobelpreis erhielt, zeigt, auf vielfache Beziehungen zwischen Literatur und Philosophie. Die enge Verbindung von Philosophie und Literatur ist allerdings nicht bloß ein Merkmal nichtwestlichen Denkens. Die moderne spanische Philosophie ist wesentlich durch philosophierende Schriftsteller:innen wie Miguel de Unamuno oder María Zambrano geprägt worden. Im französischen Existentialismus haben Jean Paul Sartre und Albert Camus ihr Denken bewusst sowohl in philosophischen als auch literarischen Werken entwickelt. In der jüngeren Zeit hat vor allem Richard Rorty sein Denken bewusst als Literatur verstanden.
Im vorliegenden Heft von Polylog werden die vielfältigen Beziehungen zwischen Philosophie und Literatur in unterschiedlichen Weltregionen einerseits durch exemplarische Studien, anderseits durch Überblicksarbeiten über die Entwicklungen in bestimmten Regionen untersucht.
Die Philosophin und Spezialistin für Afrikanische Philosophie und Literatur Alena Rettová stellt in ihrem Beitrag nicht nur die textuelle Basis für die Afrikanische Philosophie vor, sondern erweitert den Begriff »Text« für die philosophische Nutzung. In diesem mit Literaturquellen stark angereicherten Beitrag geht es nicht minder um die Frage nach der Definition von Sprache, von Texten, und ja sogar von Philosophie. Die Philosophie, die davon lebt, Begriffe und Texte zu hinterfragen und kritisch auszudeuten, wird hier insofern herausgefordert, als die Autorin nicht nur die »textuelle Grundlage« für afrikanische Philosophie erforschen und ausarbeiten will, sowie eine Methodik für die Arbeit mit afrikanischen Texten in der Philosophie vorschlägt, sondern auch analytischen Konzepten wie z. B. »Sprache«, »Text« »Autorenschaft« etc. nachgeht. Die Frage: »Wo liegt die Afrikanische Philosophie?« führt über den gesamten Beitrag, angereichert mit vielen Quellen, zur relevanten Frage »Was ist Philosophie?«. Die »Definition der Philosophie« stützt sich nach Rettová »auf drei Faktoren: Themen, Intention des Autors/der Autorin und Rezeption«.
Die Sinologin und Philosophin Jana Rošker beschäftigt sich in ihrem Beitrag mit der Darstellung einer neuen Hermeneutik und einer »Methode der Aufhebung«, die mithilfe von Texten des altchinesischen Denkers Zhuangzi schrittweise vorgestellt wird. In den analysierten Texten ist nach Rošker eine fruchtbare Verflechtung von Literatur und Philosophie zu beobachten, die in einer langen Tradition verortet ist und in (ver)dichteter Form ein »intersubjektives Verständnis« fördert. Um die Horizonte des Verstehens handelt es sich auch beim Diskurs über Gadamers Hermeneutik in China, der kritisch dargestellt und hinsichtlich seiner Nützlichkeit für die transkulturelle Hermeneutik untersucht wird. Eine neue »Methodik der Aufhebung« erwächst aus diesen Vorüberlegungen, in denen Rošker für »einen innovativen und umfassenden Ansatz für die transkulturelle philosophische Analyse« plädiert. Zum Schluss des Beitrages wird ein neuer Begriff »jingjie« mit seiner »noumenalen Dimension« vorgestellt; eine Dimension, die ein »Inter-subjektives Verständnis« fördert, das als ein »Produkt des Verstehens und Erfahrens ästhetischer Sphären, in denen Subjekte sich nicht nur bewegen, sondern in denen sie ontologisch verankert sind«, wirksam werden kann.
Ulrich Schmid analysiert die philosophische Bedeutung der russischen Literatur im 19. und 20. Jahrhundert vor dem Hintergrund der staatlichen Repressionen gegenüber der Philosophie, einerseits durch das Zarenreich, andererseits durch das kommunistische Regime. Im Konkreten werden die unterschiedlichen Beziehungen zwischen Philosophie und Literatur bei Tolstoi, Dostojewski und Pasternak exemplarisch aufgezeigt. An diesen klassischen Autoren, die auch im Westen eine breite Resonanz erfahren haben, zeigt sich nach Schmid in eindringlicher Weise, wie durch die staatliche Zensur zahlreiche Mischformen von Philosophie und Literatur entstanden sind. Kurz: »Die russische Selbstaufklärung geschah und geschieht vornehmlich im Medium einer philosophierenden Literatur oder einer literarisch verfassten Philosophie«
Carlos Oliva Mendoza entwirft in dem Beitrag »Codigofagía. Fünf Anmerkungen zur lateinamerikanischen Literatur und Philosophie« ein weitgespanntes Panorama über die literarischen und philosophischen Strömungen Lateinamerika. In den komplexen Verflechtungen von Literatur und Philosophie, die allesamt um das Phänomen der mestizaje kreisen, lassen sich nach Oliva Mendoza zwei Hauptstränge unterscheiden: einerseits romantisch inspirierte Suchbewegungen nach einer kulturellen Identität, die sich mit post- und de-kolonialen Befreiungsprozessen verbinden; andererseits »barocke« Ansätze, in denen im Licht der Leitidee der Anthropofagie die Codes, die in der mestizaje verschmolzen sind, immer wieder zerstört und re-konstituiert werden, ohne allerdings in eine stabile Identitätskonzeption zu münden.
Carolyn Fornoff widmet sich hingegen in ihrer Studie den indigenen Kulturen Lateinamerikas, in denen sich die Frage nach den Beziehungen zwischen Philosophie und Literatur in völlig anderer Weise als in den europäischen geprägten kulturellen Traditionen stellt. Fornoff untersucht in ihrem Beitrag »The flesh that speaks« den Dichterphilosophen Hubert Matiúwàa, der zum ersten Mal das Denken der Mè’phàà, einem Volk im Südwesten Mexikos, in schriftlich-poetischer Form zur Sprache bringt. Die kreative Verschriftlichung der »Philosophie« ist, wie Fornoff zeigt, aufs Engste mit den Selbstbehauptungskämpfen der Mè’phàà verbunden, in denen zugleich eine andere Ethik und Zukunft für die Region La Montaña entworfen wird.