Das Schaffen von Karl Marx ist in seiner politischen, aber auch philosophischen Dimension ein internationales Projekt: Der Anspruch seiner Philosophie beschränkt sich nicht darauf, eine Theorie zur Befreiung aller Menschen von ihren ökonomischen, sozialen und politischen Fesseln zu schaffen. Marx will die Welt verändern. Verändert hat sich die Welt durch ihn in der Tat. Marx hat weltweit Spuren hinterlassen und die Entwicklung der Geisteswissenschaften unmittelbar mitbestimmt; an der Auseinandersetzung mit ihm kam kaum eine Theorie vorbei. Auf allen Kontinenten war die Marxsche Theorie ein bestimmender Faktor, der bis in die Gegenwart fortwirkt. Spuren hinterließen vor allem auch die historischen Ereignisse, die in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Theorie stehen: die Revolution in Russland 1917, die Entstehung sozialistischer Staaten in Europa, in China und in Kuba. Somit gehört die Marxsche Philosophie ohne Zweifel zu den einflussreichsten Philosophien des 20. Jahrhunderts – und das weltweit, über alle Kulturen hinweg.
Christoph Henning hat eine umfassende Studie zur Marxrezeption vorgelegt. Diese widmet sich ausschließlich dem deutschen Sprachraum, ist aber dennoch von einer sprach- und kulturübergreifenden Bedeutung. Denn Henning versucht in seiner Dekonstruktion der Überlieferung seit dem Erfurter Programm 1891 die »Genese theoretischer Fehlrezeptionen« (Titel des 2. Kapitels) nachzuvollziehen – ein wichtiges Unterfangen, nicht nur, um Marx’ Aktualität zu beweisen, wie es Hennings Anliegen ist (vgl. S. 11-12), sondern vor allem auch aufgrund der Tatsache, dass fast alle heutigen Sozialtheorien auf die eine oder andere Weise mit der Marxschen Theorie verbunden sind, auch dann, wenn sie Marx bewusst meiden. Insofern ist eine Korrektur der Fehlinterpretationen und Verzerrungen, die die Marxsche Philosophie überlagern, von großer Bedeutung. Bezüglich der nicht-deutschen Rezeptionsströme bemerkt Verf.: »Es gibt in anderssprachigen Traditionen […] eigene Schwundstufen der Marxrezeption. Für den internationalen philosophischen Diskurs wäre schon viel gewonnen, würden die Sprachgemeinschaften ihre eigenen theoretischen Äcker kritisch bestellen, bevor sie ihre Früchte auf den globalen Markt werfen« (S. 22).
Das Buch gliedert sich in drei große Abschnitte. Im ersten Teil »Marx gestern: Zur Genese theoretischer Fehlrezeptionen« weist Henning nach, dass die Auslegung von Marx’ Theorie in der Sozialdemokratie und im Kommunismus, in Ökonomie, Soziologie, Philosophie und Theologie Marx nicht gerecht wurde. Er zeigt, wie sich diese Fehlinterpretationen im Laufe der Entwicklung verfestigten und weitere erzeugten. Den Fehlinterpretationen stellt Henning am Ende jedes Kapitels den »originalen Marx« gegenüber. Die Gegenüberstellung zeigt, dass Marx’ harte ökonomische Argumente in der Folge durch weichere, spekulativere Auslegungen verfälscht wurden. Der zweite Teil »Marx heute: Kritik der Gegenwartsphilosophie« setzt sich mit der politischen Philosophie von Habermas über Rawls bis zur Wirtschaftsethik und dem Neopragmatismus auseinander. Im dritten Abschnitt zieht Henning »Folgerungen für die Philosophie nach Marx«. Im Kern fordert er die Wiederbelebung einer wichtigen philosophischen Tradition, für die Kant und Marx als Protagonisten stehen: die Kritik, und zwar eine Kritik, die mit stichhaltigen, konkreten und sachlichen Argumenten arbeitet und sich nicht durch »normative« Argumente in die Irre führen lässt.
Dieses Buch ist schon aufgrund seines Materialreichtums für jede weitere Beschäftigung mit Marx sehr hilfreich und gehört in das Buchregal jedes Einsteigers in die Marxsche Philosophie wie auch jedes Geisteswissenschaftlers.
Anke Graneß
Christoph Henning:
Philosophie nach Marx.
100 Jahre Marxrezeption und die normative Sozialphilosophie der Gegenwart in der Kritik.
transcript Verlag, Bielefeld 2005. ISBN 978-3-89942-367-9, 659 Seiten.