War Amerika ursprünglich ein menschenleerer Kontinent, der erst durch Einwanderer aus Asien besiedelt wurde? Ist die Kultur der amerikanischen Ureinwohner also letztlich nur ein Abkömmling asiatischer Kulturen? Oder vollzog sich die Entwicklung der indigenen Bevölkerung Amerikas völlig unabhängig von maritimen und asiatischen Einflüssen? – Diesen Fragen, die bis in die Gegenwart diskutiert werden, geht Helga Gemegah in ihrem Buch nach.
Schon zu Beginn des 16. Jahrhunderts entstanden die ersten Theorien über den Ursprung der Bewohner Amerikas. Sie mussten vor allem zwei Interessen dienen: Für Spanien war es vorteilhaft, wenn die Bevölkerung der neuen Welt aus Asien stammte, ja Asien und Amerika letztlich nur ein einziger Kontinent waren. Dann nämlich konnte der Machtanspruch Spaniens auch auf Asien ausgedehnt werden. Außerdem kannte die Bibel als maßgebliche Autorität dieser Zeit nur einen Ursprung der Menschen und erwähnte Amerika und seine Bewohner mit keinem Wort. Diese mussten daher in irgendeiner Weise aus dem Vorderen Orient stammen. Mit Hilfe detaillierter Quellen zeichnet Vf. nach, wie der Anspruch Spaniens auf Asien mit der Entwicklung der Ursprungsideen über die ersten Amerikaner verknüpft ist. Maßgeblich wurde dabei vor allem das Werk des spanischen Jesuiten José de Acosta, dessen Ursprungstheorie um 1587 entstand. Seine These, die ersten Amerikaner seien in mehreren Migrationswellen eingewandert, findet sich noch in der modernen Besiedlungsforschung Amerikas. In den folgenden Jahrhunderten äußerten nur wenige Gelehrte Zweifel an Acostas Theorie. Zu ihnen gehören Thomas Jefferson und Alexander von Humboldt. Sogar wenn zwischen den Bewohnern zweier Kontinente eine Ähnlichkeit bestünde, so lautet der Schluss, ergebe sich daraus noch kein Hinweis auf die Richtung der Beeinflussung. Außerdem, so monierte Humboldt, gäbe es bisher keine empirischen Beweise dafür, dass die amerikanischen Ureinwohner tatsächlich über die Beringstraße oder die Aleuten eingewandert seien. Doch die zu dieser Zeit vorherrschende Meinung verhinderte, dass man sich darüber wunderte, dass die Bewohner und Kulturen der größten und am weitesten voneinander entfernten Kontinente ständig miteinander verglichen wurden. Noch am Beginn des 20. Jahrhunderts wurden, nun in einem modernen Gewand, die Ursprungsideen von Acosta von dem namhaften und einflussreichen Anthropologen Aleš Hrdlicka aufgegriffen. Er fasste die Menschen Zentral-, Nord- und Ostasiens, die Ureinwohner Amerikas und die malayischen Völker zu einer einheitlichen Gruppe zusammen. Widerspruch kam vor allem von Floentino Ameghino, der im Nationalmuseum in Buenos Aires tätig war und der Auffassung war, dass es schon sehr früh Menschen in Amerika gegeben haben könnte. Wäre das der Fall, dann wäre das möglicherweise auch ein entscheidendes Argument gegen den monogenetischen Ursprung aller Menschen in Afrika.
Gemegah plädiert am Schluss ihres sorgfältig recherchierten Buches dafür, sich von religiös und politisch motivierten Ansätzen zu befreien: »Es ist an der Zeit, den Kontinent Amerika sowie seine Ureinwohner ohne Einschränkungen in die Menschheitsgeschichte mit einzubeziehen« (S. 129). Ihr Buch zeigt somit in beeindruckender Weise, wie lange weltanschauliche Voreinstellungen auch die modernen empirischen Wissenschaften prägten.
Regine Kather
Helga Gemegah:
Die Suche nach den ersten Amerikanern. Entstehung, Rezeption und Auswirkungen von Ursprungsideen.
Peter Lang. Europäischer Verlag der Wissenschaften, Frankfurt 2007. ISBN 978-3-631-56322-9, 142 Seiten.