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polylog 38

Winter 2017

Theorie der Achsenzeit?

Herausgeber des Thementeils: Hans Schelkshorn

Einleitung: Theorie der Achsenzeit?

THEMA

Franz Martin Wimmer

Bemerkungen zum Potenzial des Achsenzeit-Konzepts
für global orientierte Philosophiehistorie

In diesem Beitrag gibt Franz Martin Wimmer einen Überblick über die Rezeption von Jaspers’ Theorie der Achsenzeit in der neueren Philosophiegeschichtsschreibung im Allgemeinen und der interkulturellen Philosophie im Besonderen. In beiden Diskursen war die Resonanz von Jaspers bescheiden. Jaspers hat zwar mit der These mehrerer Geburtsorte der Philosophie den Eurozentrismus oder, wie Wimmer vorschlägt »Euräqualismus«, d. h. die Gleichsetzung von Philosophie mit europäischer Philosophie, aufgebrochen. Durch ihre Abwertung vorachsenzeitlicher Stadtkulturen und problematische Periodisierungen ist jedoch die Theorie der Achsenzeit nach Wimmer für eine global orientierte Philosophiehistorie kaum geeignet.

Jan Assmann

Die Achsenzeit – zur Geschichte einer Idee

Jan Assmann, der sich als Ägyptologe bereits in früherer Zeit kritisch mit Jaspers’ Geschichtsdenken auseinandergesetzt hat, lenkt in seinem Beitrag den Fokus auf die Theoriegeschichte. Das fast gleichzeitige Auftreten griechischer, indischer und chinesischer Philosophen und Religionsstifter in der Antike ist bereits am Ende des 18. Jahrhunderts vom Orientalisten Anquetil-Duperron thematisiert und, wie Assmann zeigt, seit dem 19. Jahrhundert immer wieder aufgegriffen, modifiziert und in unterschiedliche historische und geschichtsphilosophische Kontexte eingebettet worden. Mit dem Begriff der »Achse« situiert jedoch Jaspers Anquetils Beobachtung in einem Schema, das nach Jan Assmann von der christlichen Geschichtstheologie abhängig ist. Im Licht der historischen Forschungen über die vororientalischen Kulturen kommt nach Assmann der »Achsenzeit« nicht der Status einer historischen Epoche, sondern allenfalls einer heuristischen Hypothese zu.

Anke Graneß

Der Kampf um den Anfang:
Beginnt die Philosophie im Alten Ägypten?

Anke Graneß beleuchtet in ihrem Beitrag die Debatte über die Genese der Philosophie in aktuellen Strömungen der afrikanischen Philosophie. Da in der Achsenzeittheorie Afrika und auch Südamerika ausgeblendet werden, hat Jaspers’ Geschichtsdenken in der afrikanischen Philosophie naturgemäß kaum Beachtung gefunden. Stattdessen beziehen sich afrikanische Philosoph_innen auf ägyptologische Forschungen, die in jüngerer Zeit den enormen Reichtum des Denkens im Alten Ägypten zugänglich gemacht haben. Graneß illustriert und prüft zugleich an zwei Beispielen, der Lehre des Ptahhotep und der Lehre des Ani, wie afrikanische Philosophien den Ursprung der Philosophie im Alten Ägypten verorten und zugleich Beziehungen zum Denken im subsaharischen Afrika herstellen.

Heiner Roetz

Die Achsenzeit im Diskurs der chinesischen Moderne

Heiner Roetz setzt sich in seinem Beitrag in kritischer Weise mit aktuellen Rezeptionen der Achsenzeittheorie in China auseinander. Vor allem chinesische Vertreter des Ansatzes der »multiple modernities« wie Tu Weiming stützen sich in ihrer Kritik an europäischen aufklärerischen Theorien der Moderne immer wieder auf Jaspers’ Theorie der Achsenzeit. Die kulturrelativistische Rezeption der Achsenzeittheorie, in der China als eigenständige Zivilisation neben anderen situiert wird, ist in jüngster Zeit von der obersten Führung gleichsam politisch sanktioniert worden. In dem Versuch, am Leitseil der Theorie der Achsenzeit zu den antiken Quellen der chinesischen Kultur zurückzugehen, um die neue geopolitische Machtstellung Chinas kulturphilosophisch zu stützen, werden jedoch, wie Roetz zeigt, zentrale Ideen der Jaspers’schen Geschichtsphilosophie, insbesondere der Durchbruch zu kritischer Reflexion bzw. zum Prinzip der Subjektivität vernachlässigt. Die Jaspers’sche Theorie der Achsenzeit zielt daher nicht auf eine Abschottung von Kulturen, sondern auf eine universale Kommunikation. Inmitten der weltweiten Welle kulturnationalistischer Bewegungen hat nach Roetz der aufklärerische Kern der Jaspers'schen Achsenzeit-These eine neue Aktualität gewonnen.

Hans Schelkshorn

Die Moderne als zweite Achsenzeit

Zu einer globalen Geschichtsphilosophie mit und gegen Jaspers

In diesem Beitrag stellt Hans Schelkshorn den Gesamthorizont von Jaspers’ Geschichtsphilosophie, in der die Achsenzeit nur einen, wenn auch zentralen Teil, bildet, auf den Prüfstand. In der These der Achsenzeit überlagern sich nach Schelkshorn zwei Perspektiven, einerseits die These eines Aufklärungsschubs, der einen »Streit der Schulen« entfacht, andererseits die Fokussierung auf metaphysische und religiöse Bewegungen, die sich aus Jaspers’ pessimistischer Zeitdiagnose ergibt, wonach in der Neuzeit die Menschheit durch moderne Wissenschaft und Technik in einen Nihilismus gestürzt sei. Aus diesem Grund entwirft Jaspers die Vision einer spirituell-religiösen Erneuerung in einer Zweiten Achsenzeit. Da seit der Renaissance neue radikale Aufklärungsschübe, die eng mit den frühneuzeitlichen Globalisierungsprozessen verwoben sind, einsetzen, muss nach Schelkshorn gegen und zugleich mit Jaspers die Moderne selbst als eine Zweite Achsenzeit bestimmt werden. In der Zweiten Achsenzeit wandelt sich der »Streit der Schulen«, der in der Antike weithin in den Grenzen der Ökumenen verblieb, zu einem globalen Diskurs über die Moderne, der spätestens seit dem 19. Jahrhundert das Medium interkultureller Philosophien bildet.

FORUM

Johanna Maj Schmidt

Weltkulturerbe oder Idolatrie?

Die Zerstörung von kulturellem Erbe im Irak durch den IS

REZENSIONEN

Barbara Schellhammer

Dimensionen gegenwärtiger Fremdheits- und Kulturerfahrung im Licht interkultureller und interdisziplinärer Studien.

Zu: Andreas Rauh (Hg.): Fremdheit und Interkulturalität. Aspekte kultureller Pluralität. Nr. 38 S. 116-19.

Cornelius Zehetner

Leibniz’ pragmatische Dechiffrierung des Eigenen und Fremden.

Zu: Rita Widmaier, Malte-Ludolf Babin (Hg): Gottfried Wilhelm Leibniz: Briefe über China (1694–1716). Nr. 38 S. 119-22.

Lisa Häberlein

Minderheitenpolitik und öffentlicher Diskurs.

Zu: Plamen Makariev: The Public Legitimacy of Minority Claims. A Central/Eastern European perspective. Nr. 38 S. 122-25.

Nausikaa Schirilla

Von Differenz zu Ähnlichkeit – ein kulturwissenschaftlicher Paradigmenwechsel?

Zu: Anil Bhatti und Dorothee Kimmich (Hg.): Ähnlichkeit. Ein kulturtheoretisches Paradigma. Nr. 38 S. 125-27.

BUCHTIPPS

Franz Gmainer-Pranzl

Buchtipp zu: Franziska Dübgen/Stefan Skupien (Hg.): Afrikanische politische Philosophie.

Postkoloniale Perspektiven (2015) Nr. 38 S. 128-29.

Nausikaa Schirilla

Buchtipp zu: Hamid Dabashi: Can Non-Europeans think?

With a Foreword of Walter Mignolo (2015). Nr. 38 S. 129-30.

Franz Gmainer-Pranzl

Buchtipp zu: Ruth Wodak: Politik mit der Angst.

Zur Wirkung rechtspopulistischer Diskurse (2016). Nr. 38 S. 130-31.

Nausikaa Schirilla

Buchtipp zu: Mohamed Turki: Einführung in die arabisch-islamische Philosophie

(2015). Nr. 38 S. 131-32.

Nausikaa Schirilla

Buchtipp zu: Sinan Özbek: Schriften zur praktischen Philosophie am Beispiel der Türkei

(2011). Nr. 38 S. 132-33.

Nausikaa Schirilla

Buchtipp zu: Nadia Thoma/Magdalena Knappik (Hg.): Sprache und Bildung in Migrationsgesellschaften

(2015). Nr. 38 S. 133.

Nausikaa Schirilla

Buchtipp zu: Jürgen Manemann: Der Dschihad und der Nihilismus des Westens.

Warum ziehen junge Europäer in den Krieg? (2016). Nr. 38 S. 133-34.

Liste besprochener Literatur

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